Wahlkampf der SPD

Deutschland ist dufte

Am Freitag vergangener Woche zelebrierte die SPD in Berlin den Start in die »heiße Wahlkampfphase«.

Berlins Mitte brummt. Dicht gedrängte Menschenmassen, Volksfeststimmung, gelöste Heiterkeit. Die Sonne scheint, der Durst ist groß. Wir sind auf dem Berliner Gendarmenmarkt, wo die SPD die Endphase ihres Wahlkampfes eröffnet. Das Volk ist schon da und wartet auf seinen Kanzler. Es ist guter Dinge, das Volk. Es trinkt Bier, isst Bratwürste, schwenkt Fahnen, hält Luftballons in den Händen und strahlt. Es ist in seinem Element. Denn heute ist ein besonderer Tag. Der Bundeskanzler wird sprechen. Er wird sagen, was die Mehrheit denkt. Und darauf freuen sich alle.

Bald betritt ein Animateur die Bühne und kündigt Gerhard Schröder an: »Wir erwarten den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er wird zu Ihnen sprechen.« Das ist schön gesagt, und das Volk dankt es ihm mit Fahnenschwenken und Applaus. Das Volk liebt seinen Kanzler.

Vorher aber gibt es eine Darbietung der populären Volksmusikcombo Pur, die ein kleines Potpourri aus ihren besten Schlagern präsentieren. Pur singen, was die Mehrheit fühlt. Deshalb freuen sich auch alle. Bevor Gerhard Schröder, der Vorsitzende der SPD, redet, spricht Hartmut Engler, der Vorsitzende von Pur: »Wir sind da, um den Kanzler und die Regierung zu unterstützen. Willkommen im Abenteuerland.« Das ist schön gesagt. So wächst zusammen, was zusammengehört: der sozialdemokratische Kanzler, die sozialdemokratische Volkskultur und die sozialdemokratischen Massen.

Unterstützung ist immer gut, denn Unterstützung ist Hilfe. Und Hilfe brauchen alle, auch der Bundeskanzler. Deshalb singen Pur davon, dass alles gut würde, wenn die Menschen im Lande nur zusammenhielten. Sie singen von der Hoffnung, der Gemeinschaft und dem Guten in der Welt, vor dem die Menschen die Augen verschlössen. Vom Spüren, vom Fühlen und davon, dass man sich freut, weil die Welt schön ist. Vom Wunder des Lebens und dem Wunder der Liebe. Und weil das alles zusammen mehr Spaß macht als allein, ruft Herr Engler: »Wer Lust hat, kann laut mitbrüllen. Ich mach's euch vor.«

Dann macht er es vor, und die Menschen machen es nach. Das ist schön, denn dabei entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine angenehme Leere im Kopf. »Spürt ihr, dass wir nicht alleine sind?« fragt Herr Engler, woraufhin alle laut antworten: »Ja.« Denn sie sind nicht alleine, sondern mittendrin in einem riesigen Haufen Gleichgesinnter. Und das fühlt sich gut an. »Das Zwischenmenschliche darf an so einem Tag auch nicht zu kurz kommen«, wendet sich Herr Engler ans Publikum. Und das stimmt ihm freudig zu.

Auch Pur sagen Ja. Ja zum Kanzler, Ja zur Welt. Und das ist gut so. Denn die Menschen mögen das Ja. Es ist ein angenehmes Gefühl, sich eins zu fühlen mit der Welt, mit den Menschen, mit Deutschland. Alle wippen mit, alle klatschen mit, alle sind einverstanden. Denn jeder kennt das, fühlt mit, spürt die Wärme und das Wohlbehagen, das in einem aufsteigt. Es herrscht die ungetrübte Daseinsfreude. Schön ist es, auf der Welt zu sein.

Die über der Bühne montierte Großbildleinwand zeigt immer wieder lachende Kinder, die auf den Schultern ihrer Eltern sitzen und Fähnchen schwenken. Das sind rührende Bilder, die ans Herz gehen. Das kommt gut an und hebt die Stimmung.

Auf der Bühne werden mittlerweile Prominente befragt. Sie sagen: Die deutsche Jugend ist dufte. Und sie sagen: Schwung. Wiederaufbau. Solidarität. Deutschland. Das hört man gern. Einer stellt fest, dass die SPD die beste Partei sei und dass Gerhard Schröder Kanzler bleiben müsse. Alle warten schon gespannt auf ihn. Doch zuerst hält Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin, seine Rede. Er sagt: Gemeinschaft. Alle zusammenstehen. Hoffnung. Mut. Alle gemeinsam. Deutschland. Die Zuhörer sind begeistert.

Dann tritt der Bundeskanzler ans Rednerpult. Er trägt keinen Sakko, denn er ist einer von uns. Er sagt: »15 000 sind gekommen, und ich bin dankbar.« Er spricht von der Solidarität mit den Menschen im Osten und vom Gemeinsinn, den wir brauchen, denn auch die Ostler sind Deutsche. Er plädiert dafür, »dass aus der deutschen Einheit die Einheit aller Deutschen wird«. Das ist ein wichtiger Satz, denn eine Einheit ist nur dann eine richtige Einheit, wenn alle dabei mitmachen. »Man steht zusammen, wenn es ernst wird. Das ist eine beglückende Erfahrung. Gemeinsinn ist, was unser Volk auszeichnet und unser Volk braucht.«

So spricht der Kanzler, und seine Worte werden gehört. Alle lauschen andächtig und schweigen. Denn er blickt ernst, während er seine Botschaft verkündet. Er weiß, wie man mit den Menschen sprechen muss. Er kennt sein Volk. Daher betont er auch: Die Anstrengung des ganzen Volkes ist nötig, alle müssen mit dabei sein. Beim Wiederaufbau. Aber auch sonst immer und bei allem. Daraufhin sagt er, dass wir eine Einheit der Herzen brauchen, dass es keine unüberwindbaren Gegensätze mehr gibt, dass die Dinge zusammengebracht werden müssen und dass es auch Pflichten gibt, die man erfüllen muss. »Wir brauchen und wir schaffen eine neue Ordnung«, appelliert er. Und alle stimmen ihm zu, denn der Kanzler presst seinen Daumen auf seinen Zeigefinger, sodass alle fühlen, wie wichtig ihm das ist.

Der Kanzler setzt seine Sätze ebenmäßig und harmonisch. Er spricht goldene Worte. Er sagt: Gerade hier in Berlin. Dieses Land. Dieses Deutschland. Deutscher Weg. Wir in Deutschland. Unsere gemeinsame Aufgabe. Stark. Wir. Uns. Zusammen. Gemeinschaft. Zukunft. Das sagt er, und dabei ballt er die Faust und schüttelt sie. Worte, die man kennt. Worte, die man versteht. Alle sollen mitmachen. Keiner darf ausscheren. Da weiß man, dass es ihm ernst ist. Dass er das Beste für sein Volk will. Dass er unermüdlich an den Dingen arbeitet. Dass er weiß, wie man's anpackt.

Und doch gibt es noch immer Störenfriede, die nicht einverstanden sind. Das sind die Bösen. Der Kanzler sagt: Einzelinteressen. Uneinsichtige. Neinsager. Phantasten. Alle wissen, wen er meint. Probleme gibt es keine. Es gibt nur Herausforderungen. Da nickt das Volk und guckt betroffen, aber es weiß auch, dass unser Kanzler die Sache in den Griff bekommt. Auch die Sache mit dem Einwanderungsland. Der Bundeskanzler weiß schließlich, wie es wirklich ist, und das sagt er auch. Er sagt, dass man »an die eigenen Leute denken muss«.

Dann verlässt uns der Kanzler. Er wirft die Arme hoch und macht das Siegeszeichen. Hierauf reckt er seine abgespreizten Daumen in die Höhe. Immer wieder. Das gefällt den Leuten. Er hat alles perfekt einstudiert. Er strahlt übers ganze Gesicht. Unser Kanzler ist ein Sieger. Ein Könner. Ein Macher.

Später noch, auf der Heimfahrt, in der U-Bahn, lässt die Leute das, was sie erlebt haben, nicht los. Sie sind hingerissen von den Politikern, von denen sie regiert werden. Sie sagen: »Wowereit hat eine mutige Rede gehalten.« Und: »Schröder ist rhetorisch brillant.« Und dazu nicken sie. Es sind dankbare Menschen. Sie sind froh, dass die Welt gut eingerichtet ist und dass ihr Leben einen Sinn hat. Alles wird nun besser werden. Wir können stolz sein auf uns, auf unseren Kanzler, auf unser Deutschland, das Abenteuerland. »Komm' mit ins Abenteuerland, der Eintritt kostet den Verstand«, haben Pur an diesem Nachmittag gesungen. Und alle haben mitgesungen.