Spannungen im Nahen Osten

Taktische Manöver

Während sich Militärexperten über die Wahrscheinlichkeit eines US-Krieges gegen das irakische Regime streiten, werden in Israel wieder Gasmasken verteilt.

Wir stehen kurz vor einem Kriegsausbruch«, fürchtet ein Mann in Ramat Gan, einem Vorort Tel Avivs, der 1991 mehrmals von irakischen Scud-Raketen getroffen wurde. Gemeinsam mit Hunderten steht er Schlange, um in eigens eingerichteten Verteilungsstellen eine neue Gasmaske in Empfang zu nehmen. Selbst in Jerusalem, das damals aus Rücksicht auf die heiligen Stätten des Islam verschont wurde, wächst die Nachfrage nach den so genannten ABC Weapon Protection Kits. In einem Einkaufszentrum im Süden der Stadt erklären Sicherheitsbeamte, wie man sich vor Massenvernichtungswaffen schützen kann.

In der Negev-Wüste führen derweil israelische Truppen öffentlichkeitswirksam Manöver mit Patriot-Abwehrraketen durch. Der frühere israelische Verteidigungsminister Moshe Arens nimmt an, dass noch mindestens einige Dutzend Scud- oder Al-Hussein-Raketen im Irak einsatzfähig und mit chemischen Sprengköpfen bestückbar seien. Israel hat zwischenzeitlich das »Arrow Ballistic Missile Interceptor System« entwickelt, mit dem, Arens zufolge, irakische Raketen weit wirksamer als vor elf Jahren in der Luft abgefangen werden könnten.

Trotz aller offizieller Beruhigungen wird in Israel, das gerade einige Wochen ohne Selbstmordattentate erlebt, vielen immer bewusster, dass sie zu einem der Hauptziele des möglichen Krieges zu werden drohen. Dabei geht man davon aus, dass der Irak weiterhin über vor allem mit deutscher Hilfe hergestelltes Giftgas verfügt und dass Saddam Hussein sein Gas so gegen das »zionistische Krebsgeschwür« einsetzen würde wie zuvor gegen iranische Soldaten und die eigene kurdische Zivilbevölkerung.

Im Falle eines Angriffes mit ABC-Waffen, so erklärte wiederholt die israelische Regierung, wird sie sich diesmal die Option eines Gegenschlages, selbst mit Nuklearwaffen, offen halten. Auf Druck der USA hatte Israel im Zweiten Golfkrieg nicht auf die irakische Aggression reagiert. Diese Zurückhaltung ist bis heute ein Trauma vor allem in der israelischen Rechten; man habe damals, so heißt es, eine fatale Schwäche gegenüber der arabischen Welt demonstriert.

Zugleich unterstützt die israelische Regierung nachhaltig die Politik George W. Bushs. Ariel Sharons Sprecher Raanan Gissi ließ verlauten, Israel lägen Informationen vor, dass der Irak fieberhaft versuche, weitere Massenvernichtungswaffen herzustellen, es sei deshalb »kontraproduktiv, den Sturz Saddam Husseins weiter hinauszuzögern«. Außenminister Shimon Peres erklärte CNN, sein Land - das offiziell nicht Mitglied der »Allianz gegen den Terror« ist - stehe hinter den amerikanischen Angriffsplänen, behalte sich aber eigene Maßnahmen vor. In Israel gelten der Irak Saddam Husseins sowie der Iran als die größten längerfristigen Bedrohungen in der Region.

Ze'ev Schiff warnte hingegen in der linksliberalen Tageszeitung Ha'aretz davor, mit einem nuklearen Angriff auf den Irak zu drohen. Es ginge nicht um die Zerstörung eines feindlichen Landes, sondern um den Sturz der dortigen Regierung und um die Neugestaltung der Region: »Israels Interesse ist es, Saddam Hussein zu stürzen und die irakische Militärmaschine auszuschalten, ohne dass die Türkei wegen der 'kurdischen Frage' in den Nordirak einrückt. Deshalb hat Israel kein Interesse an einer Zerschlagung des Irak, wohl aber daran, dass das Land demokratischer wird - soweit dies im Nahen Osten und in arabischen Ländern möglich ist - und die Minderheiten in der künftigen irakischen Regierung stärker repräsentiert werden.«

Sollte es Saddam Hussein im Kriegsfall gelingen, mit einem Raketenangriff einen israelischen Gegenschlag zu provozieren, würden die USA selbst die wenigen verbliebenen arabischen Alliierten in der Region, etwa Kuwait und Bahrain, verlieren. Nichts fürchten die dortigen Regimes mehr als eine dann ausbrechende und für sie bedrohliche Welle panarabischer Solidarität mit der irakischen Führung. Oberste Priorität der USA - sollten sie wirklich Ernst machen - ist auch deshalb die frühzeitige und möglichst totale Ausschaltung der irakischen Luftwaffe und die Zerstörung aller verbliebenen mobilen Raketenabschussrampen.

Schenkt man dem gewöhnlich gut informierten Debka-Informationsdienst Glauben, haben die USA und die Royal Air Force zusammen mit türkischen Truppen damit schon begonnen. Unter Berufung auf israelische Armeekreise berichtete Debka, Anfang August sei das von China modernisierte irakische Lutwaffenkontrollzentrum al-Nukhaib an der saudischen Grenze zerstört worden, außerdem hätten türkische Truppen mit Hilfe der US-Amerikaner den im Nordirak liegenden Flugplatz Bamian eingenommen. Damit sei die irakische Luftwaffe de facto ausgeschaltet. Angeblich halten sich US-amerikanische Spezialisten seit April im kurdischen Nordirak auf, unter anderem um dort Flugplätze auszubauen.

Bislang gab es keine offizielle Bestätigung der Debka-Berichte. Vielmehr behauptet Stratfor, ein anderer strategischer Think Tank in den USA, der Protest Europas und verschiedener arabischer Staaten, aber auch die Kritik namhafter US-Politiker - etwa des ehemaligen Sicherheitsberaters von George Bush senior, Brent Scowcroft, sowie der ehemaligen Außenminister James Baker und Lawrence Eagleburger - hätten die Bush-Admistration mittlerweile von ihrem Kriegskurs abgebracht.

Eine Erklärung George W. Bushs am vergangenen Mittwoch könnte in diese Richtung weisen. Noch sei keine Entscheidung gefallen, gab Bush bekannt, wie und mit welchen Mitteln man Saddam Hussein zu stürzen gedenke. Für Yvonne Ridley, Nahost-Korrespondentin des britischen Globe, sind solche Stellungnahmen hingegen nur Bestandteile der psychologischen Kriegführung; auch Ridley glaubt - unter Berufung auf britische und türkische Quellen -, dass der Krieg gegen den Irak bereits mit der Bombardierung von al-Nukhaib begonnen hat. Auch deshalb bereite Israel sich mit so hohem Tempo auf einen potenziellen irakischen Angriff vor. Ein kürzlich desertierter irakischer Offizier habe ihr sogar bestätigt, dass türkische und amerikanische Truppen selbst in den Teilen des Nordiraks operieren, die nicht unter kurdischer Kontrolle stehen, wobei es zu Gefechten mit irakischen Armeeeinheiten gekommen sein soll.

Den Sturz Saddam Husseins aber versuchen führende palästinensische Organisationen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern. Sie sind überzeugt, dass einzig eine Intensivierung der Intifada den »Imperialisten Bush« von einem Angriff auf den Irak noch abzuhalten vermag. So stand selbst der israelische Teilabzug aus dem Gaza-Streifen und der Stadt Bethlehem, den der israelische Verteidigungsminister Binyamin Ben-Eliezer mit Vertretern der Palestinian National Authority (PNA) ausgehandelt hatte, im Zeichen des Irak-Konfliktes. Nicht nur die Hamas und der Islamische Jihad lehnen das Gaza and Bethlehem-first-Abkommen ab, sogar ein Sprecher der Fatah stellte sich gegen die PNA und erklärte der Jerusalem Post zufolge, der Abzug sei nur ein »weiterer amerikanisch-zionistischer Plan, um das irakische Volk anzugreifen«.

Für viele Palästinenser ist Saddam Hussein weiterhin ein Held, der einzige arabische Führer, der sich wirklich für die Befreiung Palästinas vom »zionistischen Joch« einsetzt. Bereits 1991 begrüßten Bewohner der Westbank jede Scud-Rakete mit Jubel, während Arafat sich de facto mit dem irakischen Regime verbündete. Heute hält sich die PNA mit proirakischen Äußerungen offiziell zurück und setzt stattdessen auf den sich derzeit abzeichnenden Normalisierungsprozess mit Israel. Sicherheitsgespräche zwischen Israelis und Palästinensern verliefen, erklärten beide Seiten, in einer positiven Atmosphäre. Momentan wird ein möglicher Rückzug der IDF aus Hebron diskutiert. Den Palästinensern scheint dabei bewusst zu sein, dass ein weiteres Selbstmordattentat in Israel, aber auch eine zu offen propagierte Unterstützung des irakischen Regimes wohl sofort zu einem Ende der sich anbahnenden Entspannung führen würde.