Das Elsass

Nie wieder Deutschland

Im Elsass dient ausgerechnet die nationalistische Rechte als Auffangbecken für die Regionalisten.

Das Elsass dürfte jener Teil Frankreichs sein, der in der Vergangenheit am häufigsten den Besitzer wechselte. Zugleich stellt es heute eine der wohlhabendsten Regionen des Landes dar, dank einer frühen Industrialisierung sowie der Nähe zu Deutschland und der Schweiz. Dort arbeiten heute Zehntausende von Grenzgängern.

Auch in politischer Hinsicht weist das Elsass seine Besonderheiten auf. Es ist eine der am stärksten europäisch ausgerichteten Regionen, gehört aber auch zu denen, die am meisten auf ihre Eigenständigkeit in vielen Bereichen pochen. Die regionalistischen Tendenzen unterscheiden sich jedoch erheblich von denen in anderen französischen Landesteilen.

Die wichtigste politische Stütze für die Forderung nach regionaler Eigenständigkeit war lange die Christdemokratie, die im Elsass besonders stark war; das konservativ-liberale Parteienbündnis UDF bildete die wichtigste politische Kraft im Elsass. In den achtziger Jahren jedoch wurde sie allmählich von einer anderen Partei abgelöst, dem rechtsextremen Front National (FN). Es mag zunächst paradox wirken, aber jene, die besonders auf regionalen Eigenheiten beharrten, fühlten sich in der nationalistischen Partei besonders gut augehoben.

Der FN konnte vor allem an den Stellen im Elsass Fuß fassen, wo die Entkonfessionalisierung der Christdemokratie allmählich den Boden entzog und das einigende Band in Gestalt einer konfessionellen Identität für viele konservative Bürger entfiel.

Die relativ starken kulturellen Eigenarten der Region kamen den Rechtsextremen dabei oftmals zu Hilfe, ihren national-rassistischen Diskurs als Identitätsersatz an die Stelle des zuvor hegemonialen Katholizismus zu setzen. Die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten störten dabei nicht besonders. Im Gegenteil eigneten sie sich oftmals, um Identifikationsmöglichkeiten zu befördern.

Der Rechtsextremismus brachte dabei im Elsass seine eigene, regionalistisch geprägte Variante hervor. In den späten achtziger Jahren trennte sich Robert Spieler, der einflussreiche Vorsitzende des FN im Elsass, von seiner Partei und gründete eine neue Organisation, die sich zunächst Liste Alsace d'abord (»Elsass zuerst« statt Le Pens Slogan »Die Franzosen zuerst«) nannte. Später änderte die neue Bewegung ihren Namen in Mouvement régionaliste alsacien (MRA, Elsässische regionalistische Bewegung).

Die spezifisch elsässische und die französisch-nationalistische Variante der extremen Rechten standen zunächst in Konkurrenz zueinander. Doch bei den Parlamentswahlen im Juni 2002 profitierte Robert Spieler als einziger Kandidat von einem Wahlaufruf der beiden rechtsextremen Großparteien - des FN und des Mouvement national républicain (MNR) Bruno Mégrets. Die Wirkung blieb allerdings begrenzt, da Spieler mit 12,8 Prozent ein eher durchschnittliches Ergebnis für die versammelte extreme Rechte erreichte.

Der Regionalismus in dem recht wohlhabenden und an sozialen Konflikten armen Elsass ist vorwiegend von der Rechten aller Schattierungen geprägt. Das ist ein Unterschied zu anderen französischen Landesteilen wie Korsika oder der Bretagne, wo die wirtschaftliche Benachteiligung zunächst zu Bewegungen führte, die sich anfangs einer marxistischen oder antikolonialen Befreiungsrhetorik bedienten, bevor sie oftmals ebenfalls nach rechts tendierten.

Lediglich in den späten siebziger Jahren gab es Bemühungen, auch den elsässischen Regionalismus links-ökologisch zu orientieren, als Anti-Atomkraft-Gruppen gegen den Bau von Reaktoren etwa in Fessenheim kämpften und dabei auch den Landschaftsschutz und die elsässische Mundart für ihre Zwecke bemühten. Nach 1981 aber wurden diese Bewegungen, wie im übrigen Frankreich auch, deutlich schwächer.

Einen militanten Ausdruck wie andernorts hat dieser konservative Regionalismus nie gefunden. Jedenfalls wenn man von einer Kleingruppe versponnener Nostalgiker Nazideutschlands absieht, die in den späten achtziger Jahren unter dem martialischen Namen »Schwarze Wölfe« firmierte. Sie unternahm vor allem einen Bombenanschlag auf die KZ-Gedenkstätte in Strutthof. Die Handvoll Aktivisten des Grüppchens, die allesamt in betagtem Alter waren, konnten jedoch rasch verhaftet werden.

Die offene Nazinostalgie dieser Gruppe und auch der 1993 verbotenen Neonazigruppe HVE (Heimattreue Vereinigung Elsass) zieht heutzutage so gut wie niemanden mehr an. Denn zwar hegten viele Elsässer nach der Wiederangliederung an Frankreich im Jahr 1918 Sympathien für Deutschland, da die Zentralregierung und ihre Behörden oftmals die örtliche Bevölkerung für ihre Haltung unter dem wilhelminischen Staat bestraften.

Doch die extrem brutale »Germanisierung«, die der NS-Staat betrieb, ließ diese Sympathien in den frühen vierziger Jahren rasch erlöschen. Nach 1945 wollte nur eine verschwindende Minderheit von Elsässern zurück nach Deutschland. Die staatliche Zugehörigkeit zur Republik wurde von kaum jemandem ernsthaft in Frage gestellt, und die französische Sprache begann zuerst als Medien- und Bildungs- und dann auch als Alltagssprache den elsässischen Dialekt allmählich zu verdrängen.

Nach 1982, im Zuge der Dezentralisierungspolitik unter dem Präsidenten François Mitterrand, wurde zwar versucht, dem elsässischen Dialekt wieder einen Platz in den Schulen einzuräumen. Erste Abkommen zwischen der Schulverwaltung und den staatlichen Behörden wurden abgeschlossen, die dem Elsässischen als Unterrichtssprache Eingang ins Bildungswesen verschaffen sollte.

Doch nach Ansicht vieler Beobachter war es zu spät. Die junge Generation beherrschte, zuerst in den Städten und dann auf dem Land, kaum noch das Elsässische. »Die angestrebte Zweisprachigkeit hätte 15 oder 20 Jahre früher vielleicht funktionieren können«, meint Roland Pfefferkorn, Professor für Soziologie an der Universität Strasbourg. »Doch wenn ich in den neunziger Jahren meinen kleinen Bruder in einer Schule in einer lothringischen Kleinstadt abholen ging, dann fiel mir auf, dass so gut wie alle Kinder unter sich auch in ihrer Freizeit Französisch sprachen. Mit dem Wechsel der Generationen hat sich da einiges verschoben.«

Die Reform zur Einführung der Zweisprachigkeit im Schulunterricht stieß auf viel Kritik, weil sie tatsächlich eine große Merkwürdigkeit aufweist. Sie führt zu der fast einmaligen Situation, dass in einer grenznahen europäischen Region die offizielle Sprache des Nachbarstaats zur Unterrichtssprache erhoben wird. Denn in der Praxis wird in den Schulen, jedenfalls als Schriftsprache, nicht Elsässisch gelehrt, sondern gewöhnliches Hochdeutsch.

Wer deswegen aber bereits vor seinem geistigen Auge die Armee eines künftigen Großdeutschland durch die Straßen von Strasbourg ziehen sieht, darf sich beruhigen. Die heutigen Schülergenerationen sind weit davon entfernt, sich für so etwas zu begeistern. Lediglich Angestellte lassen häufig ihre Kinder wegen der besseren beruflichen Chancen weiterhin Deutsch lernen.

Für ein neues Anschlussprojekt wird die elsässische Sprachregelung deswegen wohl kaum taugen. Als soziales Distinktionsmerkmal für eine heranreifende Elite nahe der wichtigsten europäischen Sprachgrenze taugt die Zweisprachigkeit aber vermutlich schon.