Machtkämpfe in der KP

Im Herbst der Bürokraten

Ideologische Differenzen spielen bei den Machtkämpfen vor dem Parteitag der chinesischen KP keine Rolle. Die Partei präsentiert sich nun auch als Vertreterin der Unternehmer.

In den heißen Sommermonaten vor einem Parteitag der KP Chinas zieht sich die Funktionärselite traditionell in den beschaulichen Badeort Beidahe zurück und verhandelt in fast klandestiner Atmosphäre über die politische Zukunft. Dennoch können geübte Beobachter den Fortgang der Diskussionen normalerweise recht gut verfolgen. Anfang August dringen die ersten Interna nach draußen und finden über die Schlagzeilen der Renminribao (Volkszeitung) ihren Weg in die chinesische Öffentlichkeit. Der Ausgang der parteiinternen Personaldiskussionen lässt sich deutlich daran erkennen, wer es aus der Parteispitze bis Mitte August regelmäßig auf die Titelseite der parteinahen Zeitungen gebracht hat.

Der Sommer 2002 versprach in dieser Hinsicht unterhaltsam zu werden. Mit dem 16. Parteitag stand für den Frühherbst ein Ereignis an, das sowohl von chinesischer als auch von westlicher Seite als richtungweisend für die weitere Entwicklung Chinas angesehen wird. Gespannt blickten in- und ausländische Beobachter auf die Zeichen und Andeutungen in der chinesischen Tagespresse. Und sie fanden nichts. Selbst als Anfang August Naturkatastrophen im ganzen Land mehr als tausend Menschenleben kosteten, war kein Vertreter des inneren Machtzirkels der KP zur Stelle.

Es herrschte Funkstille in Beidahe, und die Verunsicherung in der Bevölkerung wuchs. Dazu trug maßgeblich bei, dass bis Mitte August immer noch kein Termin für den Parteitag veröffentlich wurde, obwohl er eigentlich für Ende September 2002 angesetzt war. Die übliche Vorbereitungsphase dauert mindestens zwei Monate. Somit war klar, dass der Parteitag wohl verschoben würde.

Zwar hatte sich die Bevölkerung keine grundlegenden politischen Veränderungen vom kommenden Parteitag erhofft; eines jedoch schien sicher. Die Ära Jiang Zemins, von den meisten Chinesen als eine Zeit der Korruption und Selbstbeweihräucherung angesehen, würde mit dem angekündigten Rücktritt des langjährigen Präsidenten und Generalsekretärs der KP zu Ende gehen. Dieser schien nun ebenso gefährdet wie der Rücktritt des Parlamentspräsidenten Li Peng. Er wird für die gewaltsame Niederschlagung der Reformbewegung im Jahre 1989 maßgeblich verantwortlich gemacht und ist deshalb vor allem in intellektuellen Kreisen verhasst.

Die Zeichen wiesen auf einen innerparteilichen Machtkampf hin. Unklar blieb jedoch, wer hier mit wem und vor allen Dingen wofür kämpfte. In der Vergangenheit waren die Machtkämpfe meist Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der KP. Die »linke« Fraktion, die sich in den achtziger Jahren noch für eine Rückkehr zur Planwirtschaft und eine Stärkung des Machtmonopols der KP eingesetzt hatte, verlor im Laufe des Reformprozesses immer mehr an Boden. Die um ihre Machtposition fürchtenden Exponenten dieses Flügels schwenkten deshalb Mitte der neunziger Jahre auf eine Linie der vorsichtigen Reformen ein.

Gleichzeitig verloren die sogenannten Radikalreformer unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Zhao Ziyang kontinuierlich an Einfluss. Denn die »Zentristen« mit Jiang Zemin als neuem starken Mann in der Partei und in der Regierung besetzten zumindest in der Wirtschaftspolitik die Positionen der »Radikalreformer« und verfolgten einen marktwirtschaftlichen Kurs mit starken staatskapitalistischen Elementen.

So besteht die KP im Jahre 2002 fast ausschließlich aus Zentristen. Der augenblickliche Machtkampf dreht sich zwar offiziell um die vor zwei Jahren von Jiang Zemin lancierte Theorie der »Drei Vertretungen«, wonach die Partei nicht nur die Arbeiter und Bauern vertritt, sondern auch die fortschrittlichen Produktionskräfte, die fortschrittliche Kultur und die grundlegenden Interessen der breiten Massen. Angesichts des ideologischen Offenbarungseides, der in dieser Theorie deutlich wird, scheint es aber in den Konflikten des Jahres 2002 nur noch um persönliche Macht zu gehen.

Der Machtkampf trifft die Volksrepublik zu einem Zeitpunkt radikalen sozioökonomischen Wandels. So hat die Regierung in diesem Jahr erstmals erhebliche Probleme mit der Erweiterung der Marktöffnung eingeräumt und durchblicken lassen, dass die chinesische Volkswirtschaft ohne die staatlichen Geldinfusionen der vergangenen vier Jahre »kollabiert« wäre. Das Haushaltsdefizit nähert sich einer Rekordhöhe von 37,5 Milliarden US-Dollar. Die Entwicklung in China stagniert.

Obwohl die Volksrepublik mit dem Beitritt zur WTO und der damit verbundenen stärkeren Integration in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem endgültig alle Ansprüche auf einen eigenständigen Entwicklungsweg aufgegeben hat, scheut sich die Regierung, die notwendigen strukturellen Anpassungen vorzunehmen, um auf internationaler Ebene trotz des Wegfalls protektionistischer Maßnahmen konkurrenzfähig zu bleiben. Die vor fünf Jahren verkündete Reform der zumeist maroden Staatsbetriebe blieb auf halbem Wege stecken und führte zum Aufruhr unter den entlassenen Arbeitern.

Die Kluft zwischen Stadt und Land sowie zwischen Reichen und Armen wurde seit dem letzten Parteitag vor fünf Jahren größer. Je nach Schätzung befinden sich zwischen 150 und 300 Millionen Bauern auf der Suche nach Arbeit in den Städten. Als billige Arbeitskräfte einst wichtigster Motor der Reform, finden sich viele der Wanderarbeiter nun, angesichts eines geringeren Wirtschaftswachstums und einer gleichzeitigen Erhöhung der Zuwanderungszahlen, ohne Auskommen wieder und treten in Konkurrenz zu den entlassenen Arbeitern der staatlichen Betriebe.

Die angespannte Wirtschaftslage betrifft inzwischen auch die bisher zu den Gewinnern der Reformpolitik zählende städtische Mittelschicht. Zum ersten Mal seit den Ereignissen von 1989, als die intellektuelle Elite ihren Anteil an den Errungenschaften der von Deng Xiaoping 1979 eingeleiteten Reformen forderte, besteht für die KP heute wieder die Gefahr, den Rückhalt in den großen Städten zu verlieren.

Deshalb hat die Theorie der »Drei Vertretungen« auch einen praktischen Nutzen. Sie meint die Absorption der neuen chinesischen Unternehmerklasse und der Intellektuellen durch die KP. Doch ihnen erscheint die Partei als inkompetent und korrupt. Angesichts der apolitischen Haltung der chinesischen Intellektuellen ist jedoch eine Alternative nicht in Sicht. Und eine Veränderung der Partei ist derzeit unwahrscheinlich. Jiangs designierter Nachfolger Hu Jintao gilt als blasser Karrierist, von dem die Far Eastern Economic Review einst schrieb, seine hervorstechende Eigenschaft sei, dass er keine Eigenschaften habe.

Ende August gab die KP dann doch noch den Termin des 16. Parteitages bekannt. Er soll nun am 8. November stattfinden. Anfang September veröffentlichte der US-amerikanische Sinologe Perry Link angebliche Geheimpapiere aus dem inneren Machtzirkel der KP. Danach soll der Rücktritt Jiangs beschlossene Sache sein und Hu Jintao als sein Nachfolger feststehen. Hingegen preist die Parteipresse seit Anfang September die Leistungen Jiang Zemins und dessen Theorie der »Drei Vertretungen«. Er scheint also nicht gewillt zu sein, die Macht vollständig abzugeben.

Unabhängig vom Ausgang der Machtkämpfe präsentiert sich die chinesische KP als eine Partei, die nach der Aufgabe ihrer Ideologie nun auch noch ihre organisatorische und ordnungspolitische Kompetenz abgegeben hat.