Abschied von der schönsten Jahreszeit

Sommer, komm bald wieder

Weil das Wetter wichtig ist, würdigt Detlef Kuhlbrodt die Sonne, die Wärme und das Frühstück im Park

Als Politik noch Gott war und die Revolution Jesus, warb der Sozialistische Deutsche Studentenbund mit dem witzigen Spruch: »Alle reden vom Wetter - Wir nicht!« Das Reden über das Wetter war verpönt und zementierte die herrschenden Verhältnisse. Reden über Politik dagegen war schon was anderes.

Reden über Politik hat so einen leicht winterlich sakralen E-Kultur-Bonus wie die Oper, die Kirche etc. und danach hält man sich an den Händen und singt das Lied von den Moorsoldaten. Reden übers Wetter dagegen ist U-Kultur, tendenziell minderwertig und zeitverschwenderisch.

Die Krönung eines depressiv-meditativen TV-Junkietums wäre es, sich eine Schüssel zu kaufen und ständig den Wetterkanal anzugucken.

Schon Nietzsche wusste, dass das Wetter wichtig ist. Er schrieb sehr viel über den desaströsen bzw. wohltuenden Einfluss des in uns und durch uns hindurch herrschenden Klimas aufs Denken und Wohlbefinden. Vor allem alte oder kranke Leute reden übers Wetter, nicht weil ihnen sonst nichts mehr einfiele, sondern weil ihre Körper den Wettermächten mehr ausgeliefert sind als die Körper junger Menschen. Sonne oder Regen spielen bei ihnen eine größere Rolle als Ob-nun-Schröder-oder-Stoiber.

Der Sommer hatte etwas vom Rinderwahnsinn, obgleich Creutzfeld-Jacob gar nicht im Sommer um sich griff. Irgendwie hatte dieser Sommer jedenfalls etwas Perverses, Übertriebenes, Unangemessenes.

Das stimmt wohl auch; im Winter sind Kinder ja mehr ihrer Familie ausgeliefert, dem zuweilen desaströsen Mikroklima sozusagen, dem man so schlecht entkommen kann; der Sommer dagegen geht ins Offene.

H. war begeistert von diesem Sommer, dessen Essenz ihr in dem Langnese-Lied »So schmeckt der Sommer« aufbewahrt zu sein schien. H. sagte, der Sommer sei eigentlich eine »antideutsche Institution«, die die Leute auf die Straße treibt, weg vom Abgekapseltsein, hin zum Mediterranen. Man lernt viel mehr Leute kennen im Sommer, weil man ja viel mehr draußen ist; die Fenster sind auf, Gardinen bewegen sich sanft im Wind; wenn der Frühling beginnt, nehmen sich statistisch die meisten Menschen das Leben; Liebesgeschichten beginnen gewöhnlich im Sommer, der Sommer ist quasi das offen Emotionale und die Leute haben weniger an.

Im Sommer, als es noch heiß war, hatten wir zusammengesessen, und die Fenster waren geschlossen, wegen der Hitze und weil's draußen zu laut war, und die Vorhänge waren zugezogen, weil die Sonne draußen bleiben sollte. B., die Kulturwissenschaftlerin a.D. und gelernte DDR-Bürgerin, hatte von den drei Wochen erzählt, die sie gerade in Rumänien am Schwarzen Meer gewesen war mit Schlammkuren und solchen Dingen. Das hätte ihr sehr gut getan, das sei ganz fantastisch gewesen, viel besser als Bulgarien, wo sie früher immer hingefahren war.

Wie immer rauchten wir ununterbrochen, der Rauch in der Sonne sieht super aus, und B. erzählte lachend von ihrem schwäbischen Schwiegersohn, der sie kurz während ihrer Kur besucht hatte. Sie waren zum Strand gegangen, und er hätte eine Badehose dabei gehabt. Da hätte sie ihn ausgelacht, das fand sie ziemlich lächerlich.

Als Kind dachte ich immer, es ginge in erster Linie darum, seinen Po zu verbergen, und in der Badeanstalt fiel das Handtuch, das man sich sorgfältig um die Hüften gebunden hatte, manchmal runter. Wir standen zwischen den anderen Kindern vor dem Kiosk in der Badeanstalt und kauften Lakritze oder Brausebonbons.

Die Sonne schien heiß auf die hölzernen Badeanstaltsbänke. Jemand sagte, jemand sei ertrunken, und das veränderte alles so plötzlich, wie das Loch im Kopf, aus dem Blut in den heißen Sand tropfte, an der Mauer vor dem Haus, und am Ende des Sommers schaute man traurig durch die weißen Gitterstäbe, die der Vater vors Fenster gemacht hatte, damit man nicht rausfiel, und dachte, es wird nie mehr Sommer werden. Später, in London, war es still und wahnsinnig heiß schon am Morgen.

Gewesen. Ob ich Lust hätte, im Park zu frühstücken und dann ein bisschen in der Sonne baden, hatte sie gefragt, und ich hatte gesagt, klar, und sie hatte mich dann so komisch angeguckt, als ich ganz normal, mit langer Hose und Hemd und einer Tasche mit Shorts und Decke vor ihr stand. »Ich meine, wir gehen in den Park!«, hatte sie gesagt und: »Du kannst dich doch nicht im Park umziehen!«

Das war irgendwie logisch, und ich schämte mich ein bisschen, nun plötzlich ihrem Deutschlandklischee zu entsprechen. Für sie waren Deutsche nicht in erster Linie Nazis, sondern vor allem Streber und hemmungslose Nudisten. Und dass man als Deutscher bei der WM gegen die eigene Mannschaft sein konnte, fand sie auch typisch deutsch und schrieb nach dem 1:0 gegen Paraguay: »Well done Germany - very glad to imagine you must be feeling happy for the football.«

Das mit dem Nudismus hätte sie auch schon in Berlin gedacht. Man braucht da ja nur aus dem Fenster zu gucken. Da sieht man gleich, wo die Deutschen wohnen. Während die Türken Gardinen und Vorhänge haben, lieben es die Deutschen eher ohne. Der deutsche Nudismus entspricht dem herrschenden Agnostizismus, dachte ich, und das ist vermutlich das Störende daran; diese künstliche Entkoppelung von Sexualität und Nacktheit.

In London hatte ich behauptet, die Zeit der nackten Deutschen sei längst vorbei. Zurück in Berlin sah ich dann doch die ersten; vier Stück, wie sie da im Gras beim Kreuzberg rumlagen. Ihr Fleisch wirkte tumb und unbeseelt; Bräune macht sich auf deutscher Haut oft nicht so gut, und dies Nationending ist schon seltsam, wenn man eben nicht mehr urlaubsweise in London ist, sondern um sich einzugewöhnen bei der Freundin, die eher ein positivromantisches Deutschlandbild hat. Sie dachte an Goethe und Novalis, und ich dachte an eine furchtbare Mallorcareise, auf der eine internationalistische Kollegin stundenlang darauf beharrte, dass Deutschland nun die unbeliebteste Nation auf der Welt sei, und ich ständig dagegenhielt, nö, die Amis. Wir zerstritten uns völlig über derlei Schwachsinn und redeten ein Jahr nicht mehr miteinander. Wirklich.

Eine Woche hatte ich im Sommer im Bett gelegen, der Bauch war kaputt, was anderes als Porridge ging nicht mehr, und die Menschen im Hinterhof trieben mich in den Wahnsinn. Der Bass des Hausmeisters, der mit seinen Kumpels biertrinkend den ganzen Sommer im Hinterhof verbrachte, war so wahnsinnig laut schon ab acht und blieb es bis zum Abend. Am schlimmsten war vielleicht gar nicht die Stimme, sondern eben dass die da halt den ganzen Sommer auf den Bänken zwischen Geranien in ihrem Kreuzberger Hinterhof verbrachten; ab und zu am Tag noch mal in der Haustür stehen, so blockwartsmäßig die Gegend kontrollieren, einmal im Monat vielleicht noch mal Markthalle, ansonsten aber nur Hinterhof halbnackig mit 50. Bier schlabbern. Sonst nichts mehr.

Irgendwie ist man wegen Kindheit und Studium darauf eingetuned, dass nach dem Sommer was Neues beginnt. Andere haben Angst vor dem Winter. Am Ende des Sommers hatte sich die Merve-Verlegerin Heidi Paris das Leben genommen. Sie war so freundlich und schien so lustig. Der Mutter von M., die Krebs hat, geben die Ärzte noch ein paar Monate. Manche wechseln schnell, als sei nichts gewesen, das Thema, wenn man über den Tod spricht. Oder plötzlich kommt so ein Redeschwall, in dem es darum geht, dass Trauer doch nur purer Egoismus sei, weil man doch immer nur über sich selbst trauern würde.

Meine erste Schallplatte bekam ich am Geburtstag im August. Sie war von Mireille Mathieu und hieß »Der Sommer kommt wieder«. Der Refrain ging so: »Der Sommer kommt wieder, kommt wieder, in jedem Jahr. Der Sommer kommt wieder, doch es wird niiiiiiieeee mehr so, wie es waaaaaaaar.«