Israelisch-palistinensischer Konflikt

Zwischen Jihad und Reform

Mit neuen Selbstmordanschlägen in Israel wollen die palästinensischen Islamisten die Führung der Intifada zurückerobern.

Nach sechs Wochen Ruhe ist, so scheint es, wieder die Normalität in den Nahostkonflikt eingekehrt. Mit einer ganzen Serie von Gewaltakten bereiteten palästinensische Extremisten der vagen Hoffnung ein Ende, die sich in den Tagen zuvor gezeigt hatte. Die Erleichterung der Israelis, in diesem Jahr heil über die Feiertage gekommen zu sein, war offenbar verfrüht.

Nachdem bereits zuvor zwei Israelis palästinensischen Terroranschlägen in den besetzten Gebieten zum Opfer gefallen waren, tötete ein Selbstmordattentäter zunächst am Mittwoch vergangener Woche einen Polizisten in der Nähe von Umm al Fahm in Israel. Am Donnerstag schließlich ermordete ein weiterer Attentäter mindestens sechs Menschen, als er sich in einem vollbesetzten Bus in der Innenstadt von Tel Aviv in die Luft sprengte. In beiden Fällen wurden viele weitere Menschen verletzt.

Die israelische Armee reagierte sofort, indem sie zum Hauptquartier Yassir Arafats vorrückte, große Teile davon zerstörte und den Rest seither belagert, um die Herausgabe von gesuchten Extremisten zu erzwingen. Zugleich wurden die Ausgangssperren in der Westbank erneut verschärft. Auch hat diese Eskalation bereits zivile Opfer gefordert.

Die Anschläge der letzten Woche sind jedoch nicht nur die üblichen, zumeist erfolgreichen Versuche der palästinensischen Extremisten, eine mögliche Entspannung zu unterbinden. Sie sind auch ein direkter Beitrag zur palästinensischen Debatte um die Reform der Autonomiebehörde und die Strategie der Intifada. Nachdem die Hamas und der Jihad zwei Jahre lang die Intifada angeführt haben, droht diese informelle Position nun verloren zu gehen. In der palästinensischen Debatte schien erstmals seit dem Beginn der Intifada nicht mehr das antisemitischste Argument den Ausschlag zu geben, sondern das vernünftigste. Mit der Wiederaufnahme der Attentate innerhalb Israels wollen sich die Islamisten zu einem Zeitpunkt wieder ins politische Spiel bringen, da die Karten neu gemischt werden.

Ob das gelingt, hängt zunächst davon ab, wie grundlegend der Meinungsumschwung unter den Palästinensern tatsächlich ist. Die Reformdebatte steht nicht nur im Kontext einer größer werdenden Unzufriedenheit mit dem aus palästinensischer Sicht desaströsen Ergebnis der Intifada. Sie steht auch im Zusammenhang einer Delegitimation des Terrors in der Bevölkerung und diverser palästinensischer Initiativen zur Beendigung der Gewalt und zur Wiederaufnahme der Verhandlungen.

Diese Initiativen reichen von einer Erklärung in Israel inhaftierter Fatah-Kämpfer, die ein Ende der Anschläge auf Zivilisten verlangt, bis zu einem gemeinsamen Papier des ehemaligen israelischen Geheimdienstleiters Ami Ayalon und des Repräsentanten der PLO in Jerusalem, Sari Nusseibeh, das Prinzipien für eine Beilegung des Konfliktes formuliert. In diesem Dokument wurde unter anderem erneut erklärt, dass die palästinensischen Flüchtlinge kein Recht auf Rückkehr nach Israel erhalten sollten. In der offiziellen Zeitung der Autonomieverwaltung, Al-Hayat al-Jedida, durfte kürzlich ein ehemaliger Minister, Nabil Amr, Arafat scharf dafür kritisieren, sich in Camp David nicht mit Israel geeinigt zu haben. Sogar in den Reihen des israelischen Sicherheitsapparats ist von einer »strategischen Wende« der Palästinenser die Rede.

Schon vor den Anschlägen der letzten Woche wurde diese Einschätzung in Israel allerdings nicht einhellig geteilt. Ebenso wie der Generalstabschef Moshe Yaalon sahen auch verschiedene Kommentatoren den Grund für die relative Ruhe in den Erfolgen der israelischen Armee. Tatsächlich wurde regelmäßig von vereitelten Terroranschlägen berichtet, und offensichtlich ist ein Großteil der islamistischen Kader in der Westbank inzwischen entweder tot oder in israelischer Haft.

Diese Skepsis scheint sich nun nicht nur durch die Anschläge zu bestätigen, sondern auch durch die halbherzige Verurteilung des Attentats vom Donnerstag in Tel Aviv seitens der palästinensischen Führung. Arafat vermied dabei erneut eine klare Absage an den Terrorismus und bestätigte damit wieder einmal jene Israelis, die von ihm keine ernsthaften Bemühungen zur Beendigung der Gewalt erwarten. Es ist längst noch nicht sicher, ob die palästinensische Reformdebatte der Anfang vom Ende der Intifada ist. In jedem Fall stellt sie einen innerpalästinensischen Machtkampf dar, in dem die Zukunft Arafats und seiner potenziellen Nachfolger entschieden wird.

Arafat hofft, sich an der Macht zu halten, indem er sich in dieser Debatte nicht eindeutig äußert. Das ist zwar eine sehr gewagte Strategie, sie hat jedoch eine gewisse Chance, solange sie mit Sharon und seiner Regierung als zuverlässige »Partner« auf der israelischen Seite rechnen kann. Denn solange Arafat selbst im Visier der Israelis ist, ist er vor Umsturzversuchen aus den eigenen Reihen sicher. Ebenso wie Arafat auf Sharon und die israelische Rechte angewiesen ist, brauchen diese nämlich den palästinensischen Präsidenten.

Zwar werden die Töne, die eine Vertreibung Arafats fordern, in den letzten Tagen wieder lauter. Doch ob im Exil oder eingeschlossen in Ramallah, Arafat bleibt für die israelische Rechte der beste Garant, um eine Reform der PA zu verhindern. Sharons Forderungen nach einer solchen Reform sind daher in der sicheren Überzeugung formuliert, dass sie mit Arafat nicht stattfinden wird und man deshalb bis auf weiteres eine Legitimation für die Aufrechterhaltung der Besetzung in der Hand haben werde.

Zugleich lässt das Argument, dass man keinen Verhandlungspartner habe, solange Arafat im Amt sei, alle Versuche der Arbeitspartei scheitern, eine Alternative zu Sharons Politik zu formulieren. Dass sich hier nun möglicherweise tatsächlich etwas verändern könnte, passt nicht ins strategische Kalkül der israelischen Falken. Das drastische Vorgehen der israelischen Armee gegen Arafats Hauptquartier erscheint so paradoxerweise als verzweifelter Versuch, ihn an der Macht zu halten.

Wenn von der israelischen Regierung nicht mehr die Ersetzung Arafats durch eine gefügige Figur als Ziel der palästinensischen Reformen angesehen würde, sondern eine echte Demokratisierung einschließlich der Ausschaltung der Islamisten, wären Arafats Tage an der Spitze der Autonomiebehörde gezählt.

Dafür aber wäre auch eine strategische Wende in Israel notwendig. Schon Anfang Juni brachte Gershon Baskin, der Direktor von IPCRI, einer der wenigen noch existierenden israelisch-palästinensischen NGO, es auf den Punkt: »Wenn wir hier schon über Reformen reden, warum reformiert Sharon nicht die israelische Regierung, entledigt sich der Hälfte seiner Minister und erweist dem israelischen Volk zugleich einen großen Dienst, indem er Neuwahlen ausruft?«

Baskins Hintergedanke ist es, dass echte Ansätze zu neuem Denken unter den Palästinensern sich nur dann behaupten können, wenn ihnen auch in Israel ein gewisses Maß an Unterstützung entgegen gebracht wird. Die neuerliche Schließung des Jerusalemer Büros von Sari Nusseibeh weist aber genau in die entgegengesetzte Richtung. Ernstzunehmende Vorstöße für eine Wende in der palästinensischen Politik wie diejenigen Nusseibehs treffen regelmäßig auf die heftigsten Widerstände in der politischen und militärischen Führung Israels.

Sie lassen sich jedoch umso leichter zurückweisen, als sie auch auf palästinensischer Seite keinen sichere Basis besitzen. Die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf der Intifada kann auf Dauer durchaus wieder den Islamisten zugute kommen. Das Ergebnis der »Reform« wäre dann nicht die Demokratisierung, sondern die endgültige Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft.