Die Islamisten sind nach den Wahlen in Marokko stärker

Himmlische Wohlfahrt

Bei den Wahlen in Marokko stieg die islamistische Partei zur dritten Kraft auf, während die Monarchisten stark verloren.

Nur keine falsche Bescheidenheit! möchte man Marokkos Islamisten zurufen. Die Partei habe sich aus freien Stücken dafür entschieden, nur in rund 60 Prozent der Wahlkreise zu den Parlamentswahlen vom vorletzten Freitag anzutreten, behauptete die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) vergangene Woche. Man habe »einen Erdrutschsieg« vermeiden wollen, da dieser »im Inland und Ausland nur schwer ertragen worden wäre«, lautete die Begründung.

In Wirklichkeit hat die PJD sich nicht so viele Selbstbeschränkungen auferlegt, wie sie im Nachhinein vorgibt. Zwar stellte die, nach offizieller Diktion »gemäßigte islamistische Partei«, tatsächlich nur in 56 von insgesamt 91 Wahlkreisen Kandidaten auf. Sie konzentrierte allerdings dabei alle Anstrengungen auf jene Bezirke, in denen die PJD die besten Chancen hatte, die Mehrheit zu erringen. Das war besonders in den städtischen Armutsquartieren in Casablanca, Fès, Rabat und Tanger der Fall.

Mit 41 von insgesamt 325 Sitzen im neuen Parlament zählt die PJD zu den Wahlsiegern. Nun stellt die islamistische Partei nach der sozialdemokratischen USFP, die 49 Sitze innehat, und der konservativ-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) mit 47 Sitzen, die drittstärkste Parlamentsfraktion, auf gleicher Höhe mit der bürgerlichen »Nationalen Sammmlung der Unabhängigen« (RNI).

Wie auch in anderen Ländern der Region spricht der marokkanische Islamismus vor allem zwei soziale Schichten an. So finden sich einerseits unter seinen Anhängern die traditionellen Mittelschichten, die in Folge der gesellschaftlichen Modernisierung verarmen. Dazu gehören Handwerker und kleine Geschäftsleute, aber auch Personen, die bisher mit der Vermittlung von traditionellen, oft wissenschaftlich verbrämten religiösen Inhalten betraut waren, wie Grundschullehrer oder geistliche Gelehrte.

Auf der anderen Seiten mobilisiert der Islamismus auch jene Teile des städtischen Subproletariats, die sich an den Rändern der großen Städte ansiedeln. Sie stammen zumeist aus ländlichen Regionen und finden in der Regel keine oder allenfalls äußerst prekäre Arbeit. Gleichzeitig sind sie noch stark von der Mentalität der Landbevölkerung geprägt und fühlen sich an alte Werte des religiösen Volksglaubens gebunden.

Die PJD, die als einzige islamistische Partei zu den Wahlen antreten durfte, ist sehr stark vom traditionalistischen Bürgertum beeinflusst. In den Slums und Armutszonen gibt es auch andere Kräfte wie die zwar illegale aber tolerierte Vereinigung Al Adl wa Lihsane (Gerechtigkeit und Spiritualität) des greisen Scheichs Abdessalam Yassine. Er erklärte vor den Wahlen, dass das Parlament ohnehin nichts ändern würde. Daneben existieren Gruppen, die einem bewaffneten Vorgehen nicht abgeneigt sind. Dennoch hat es die PJD geschafft, die verarmten Schichten, die einem islamistischen Diskurs zugänglich sind, zumindest als Wähler zu gewinnen. Dafür sorgte ihre intensive Wohltätigkeitsarbeit in einem Land, in dem ein Sozialsystem so gut wie nicht exisitiert.

Seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1956 fanden zwar bereits insgesamt fünf Wahlen statt. Doch zum ersten Mal wurden sie ohne allzu große Fälschungen durchgeführt. Internationale Beobachter gaben an, zusammen mit den ersten palästinensischen Wahlen vom Januar 1996, seien jene in Marokko mit Abstand die demokratischsten im arabischen Raum gewesen. König Mohammed VI., der seit drei Jahren regiert und versucht, das bislang noch halbfeudale Land zu modernisieren, hatte sogar an Bürgerinitiativen und NGO appelliert, den korrekten Ablauf der Wahlen zu überprüfen. Möglicherweise wegen der umfangreichen Kontrollen ging der Anteil der Union constitutionnelle, die den Institutionen der Monarchie nahe steht, von 50 auf 15 Parlamentssitze zurück. Auch die vielen kleinen Honoratioren- oder Karrieristenparteien hatten nicht den erwarteten Erfolg. Alle zusammen konnten kaum 40 Sitze gewinnen.

Auch der Regionalfürst Mahmoud Archane, der seit 20 Jahren für den Wahlkreis von Tifelt, einer heruntergekommenen Stadt 50 Kilometer östlich von Rabat, im Parlament saß, wurde nicht wieder gewählt. Ein Ergebnis, das noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien. Er war beschuldigt worden, als Leiter der berüchtigten Haftanstalt in Casablanca von den sechziger bis zu den achtziger Jahren persönlich Folterungen vorgenommen zu haben. Kurz vor der Wahl besuchten zahlreiche Einwohner ein Treffen der Vereinigten Sozialistischen Linken (GSU) in Tifelt, auf dem der Folterknecht öffentlich denunziert wurde. Am Wahltag kontrollierten Mitglieder der Menschenrechtsvereinigung AMDH in dem Bezirk die Stimmenauszählung. Archane, der für die rechte Berberpartei MDS kandidierte - über 60 Prozent der Bevölkerung Marokkos sind berberischer Herkunft - prangerte das »terroristische Komplott gegen die Monarchie« an und ohrfeigte die AMDH-Aktivistin Atika Daïf.

Die GSU, eine Bewegung der radikalen Linken, zu der sich vier marxistische Organisationen zusammengeschlossen haben, ist mit drei Abgeordneten im künftigen Parlament vertreten. Einer davon, El Mokhtar Raschidi, vertritt die bekannt gewordene Bewegung der chômeurs diplômés. Diese »Arbeitslosen mit Universitätsabschluss« sind seit mehreren Jahren sehr aktiv und halten regelmäßig Sit-ins vor dem Parlament ab.

Die GSU hielt allerdings die offiziellen Grenzen politischer Betätigung nicht immer ein. So wurde einer ihrer Kandidaten, der Lehrer Mohamed Loukah, am Tag vor den Wahlen wegen »Angriffs auf die höchsten Institutionen« verhaftet. Er hatte eine »parlamentarische Monarchie« gefordert, also ein System, in dem die gewählten Institutionen tatsächlich regieren und in dem nicht der Monarch das letzte Wort hat. Doch auch weiterhin wird es der König sein, der den Premierminister nach eigenem Gutdünken ernennt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Der muss im Prinzip weder dem Parlament noch einer politischen Partei angehören.

Nach der Wahl sind nun zwei Regierungsoptionen denkbar: eine Fortführung der alten Koalition aus den Sozialdemokraten und den beiden bürgerlichen Parteien Istiqlal und RNI, oder eine Rechtskoalition unter Einschluss der islamistischen PJD. Der Generalsekretär von Istiqlal, Abbas El-Fassi, hat bereits erklärt, im Namen des Islam »gemeinsame Werte« mit der PJD zu teilen.