Die Regierung treibt Flüchtlinge in die Obdachlosigkeit

Die Grenze bin ich

Das österreichische Innenministerium hat mit einer neuen Verordnung hunderte Flüchtlinge in die Obdachlosigkeit getrieben. Die Konservativen wollen so Wähler der FPÖ gewinnen.

He!« brüllt der Mann mehrmals aus vollem Hals. Er trägt eine graue Uniform mit dem Aufnäher »Österreichischer Sicherheitsdienst«. »Haben Sie eine Lagerkarte?« fragt er in breitem Wienerisch. Die Antwort ist nein. »Dann gehen Sie! Auf Wiedersehen.« Im folgenden Gespräch wird er jeden seiner Sätze mit diesem Abschiedsgruß versehen. Das Flüchtlingslager in Traiskirchen, einer Kleinstadt 20 Kilometer südlich von Wien, darf seit diesem Monat niemand mehr ungebeten betreten. Die zwei Meter hohe Mauer der ehemaligen Kaserne erstreckt sich an einer Seite über knapp einen Kilometer, führt am Ortsschild vorbei und endet dort, wo die Berge beginnen. Der Wachmann steht am Eingang und postuliert: »Hier ist die Grenze. Ich bin die Grenze. Auf Wiedersehen!«

Ähnlich dachte wohl auch Innenminister Ernst Strasser, als er Ende September unangekündigt eine Delegation der Gendarmerie in dieses Flüchtlingsheim schickte, um die freien Betten zählen zu lassen. Zu jener Zeit lebten dort 1 900 Asylbewerber, Familien mit Kleinkindern ebenso wie Jugendliche ohne Begleitung. Je 300 Flüchtlinge teilten sich drei Toiletten und eine Dusche.

Shah Ahmed aus Afghanistan hatte das Glück, dass er gerade auf seinem Bett saß, als die Delegation kam. Sonst wäre er, wie mehrere hundert Flüchtlinge, die die Polizisten nicht in ihren Zimmern antrafen, am folgenden Mittwoch aus dem Lager gewiesen worden. »Aus meinem Zimmer wurde eine Familie verbannt. Ein Kind war gerade vier Monate alt.« In jener Nacht lagen die Temperaturen knapp über null Grad. Verzweifelt versuchten die Ausgesperrten, über die Mauern zu klettern, sie legten sich in den Räumen auf die Fußböden bis zur nächsten nächtlichen Razzia. Übrig geblieben sind jetzt noch rund 800 Bewohner.

Die entsprechende Verordnung für diese Aktion reichte Strasser am 1. Oktober nach. Danach werden Asylbewerber aus den EU-Beitrittsländern grundsätzlich nicht mehr betreut. Russen, Armeniern, Türken, Aserbaidschanern, Mazedoniern, Jugoslawen und Nigerianern wird nur in der ersten Instanz ihres Asylverfahrens ein Obdach gewährt. Außerdem landen alle, die verdächtigt werden, etwas Ungesetzliches getan zu haben, unter der Brücke.

Einen Rechtsanspruch auf Betreuung hat es in Österreich ohnehin nie gegeben. Den 40 000 Antragstellern, von denen Strasser behauptet, sie würden in diesem Jahr einen Asylantrag in Österreich stellen, stehen 7 076 Betten zur Verfügung. Der Rest wird traditionell von der Caritas, der Diakonie und der Volkshilfe versorgt.

Die Asylpolitik in Österreich ist vor allem chaotisch. Niemand weiß genau, wie viele Flüchtlinge an welchem Ort leben und wohin sie verschwinden. Viele der Ausgesperrten sind mittlerweile in Notquartieren im nahen Wien untergekommen, die die Stadt als Katastrophenmaßnahme zur Verfügung gestellt hat. Täglich kommen neue hinzu. Die beiden Flüchtlinge, die noch vor dem Tor des Traiskirchener Lagers herumstehen, erzählen, dass sie ihre Wiener Schlafstätte morgens mit einem kleinen Frühstück im Bauch verlassen müssen. Tagsüber kommen sie zum Flüchtlingslager. Dort haben sie bis 19 Uhr ein Dach über dem Kopf. Erst am Abend können sie nach Wien zurückkehren und bekommen ein Abendbrot und eine Matratze.

Der Innenminister tobt wegen so viel Menschlichkeit. Er wettert vor allem gegen die Kosovo-Albaner, die er als »Wirtschaftsflüchtlinge« bezeichnet. Ihnen will er mit der Aussperrung klar machen, dass es »hier nichts zu holen gibt«. Seiner Meinung nach sabotierten die Hilfsorganisationen mit ihren Notquartieren seine Strategie. Er will »ehrlich sein«. Daher will er alle Zuwendungen an die Organisationen streichen, die die Auswirkungen seiner Maßnahme mildern könnten.

Die Aussperrung ist auch ein Signal an die österreichischen Wähler. Am 24. November soll das Parlament neu gewählt werden, da die Koalition zwischen Strassers konservativer Volkspartei (ÖVP) und der rechtspopulistischen FPÖ zerbrochen ist. Seitdem befinden sich die Freiheitlichen in einem Stimmungstief. In Umfragen gibt nicht mal die Hälfte ihrer ehemaligen Wähler an, der Partei ihre Stimme geben zu wollen.

An den vielen Wählern, die in den vergangenen Wahlkämpfen mit rassistisch-nationalistischen Kampagnen bedient wurden, scheinen nun sowohl die ÖVP als auch die oppositionellen Sozialdemokraten (SPÖ) interessiert zu sein.

Strasser, dem der Ruf anhaftet, ein Liberaler zu sein, kümmert sich um diese Gruppe. Er wird nicht müde, für die Einführung unwiderruflicher Schnellverfahren zu plädieren, die in höchstens 72 Stunden über Asylanträge entscheiden sollen. »Asylstraße« nennt er das. Momentan dauert eine Entscheidung der notorisch unterbesetzten Asylämter ein halbes Jahr. Nur rund zehn Prozent der 23 231 Anträge, die bis zum September vorlagen, sind bearbeitet worden.

Auch die Sozialdemokraten wollen die freiheitlichen Wähler. Die SPÖ in Traiskirchen hat in großer Eile Plakate aufstellen lassen, die Strasser für die vielen Ausländer im Stadtbild verantwortlich machen. »Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihre Meinung«, steht darauf, auch die Telefonnummer des Innenministeriums ist angegeben. Tatsächlich führt Strasser aber nur das konsequent fort, was seine sozialdemokratischen Vorgänger Jahrzehnte lang getrieben haben.

Der Wiener Bürgermeister Michael Häupl wirbt dagegen am liberalen Rand der Volkspartei um Stimmen. »In Wien wird im Winter mit Sicherheit kein Asylant erfrieren oder verhungern«, verspricht er und bietet leer stehende Gebäude für die Unterbringung an. In Wirklichkeit hat sich sein Bundesland bisher, ähnlich wie Jörg Haiders Kärnten, erfolgreich dagegen wehren können, die eigentlich vorgesehene Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Auch Haider kann daher Mitleid mit den Ausgesperrten heucheln: »Man kann diese Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen.«

Gleichzeitig haben die Freiheitlichen das Problem, dass auch eine noch so rassistische Plakatkampagne Strassers momentane Medienpräsenz nicht übertreffen kann. »Wo sind jetzt die Demonstranten, die mit der Kerze in der Hand gegen die FPÖ demonstriert haben?«, wundert sich der Infrastrukturminister Mathias Reichhold, der nach dem Rücktritt der Vorsitzenden Susanne Riess-Passer nun die Partei in den Wahlkampf führen soll.

Einzig die christlichen NGO laufen Sturm gegen die Maßnahmen des Innenministeriums. Doch Strasser ließ bisher jedes Krisengespräch ergebnislos verstreichen. Er weiß, dass er auf sie zählen kann. Sie haben das österreichische Modell maßgeblich mitgestaltet, indem sie die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen dem Staat abgenommen haben. Strasser weiß, dass sie es auch weiterhin tun werden, zumindest bis zum Jahr 2004.

Dann tritt die europäische Vereinbarung in Kraft, die die Republik zur Betreuung der Asylbewerber verpflichtet. Aber bis dahin will der Innenminister ein Drittel von ihnen loswerden, zum Beispiel mit Hilfe von Plakaten, die sich an die Obdachlosen richten und die im ganzen Land aufgestellt wurden: »Returning home. Do you need help?« Die NGO haben bereits Interesse angemeldet, wenn Beratungsstellen zur Rückkehr eingerichtet werden sollen.