Jean-Patrick Manchettes Krimis

Blues im Noir

Georges Gerfaut, ein Angestellter und Familienvater, rast mit seinem Auto auf dem Boulevard Périphérique um Paris herum. Sein Inneres sei »düster und konfus«, teilt uns der Autor mit. Undeutlich lasse sich »linkes Gedankengut erkennen«. Georges Gerfaut hat ein paar Gläser Bourbon getrunken und hört Gerry Mulligan oder Chico Hamilton. So beginnt und endet Jean-Patrick Manchettes Kriminalroman »Westküstenblues«. Dazwischen wird ein ganzes Leben umgekrempelt.

Manchette, der im Dezember 60 Jahre alt geworden wäre, ist einer der Großen in der französischen Kriminalliteratur. Er liebte das Kino und den Jazz und schrieb neben Drehbüchern und Kolumnen in den siebziger Jahren zehn Kriminalromane. Mit ihnen begründete er eine neue französische Tradition des Roman Noir, den er Neo-Polar nannte und in einem Interview folgendermaßen umriss: »Ein guter Roman noir ist ein sozialer Roman, ein gesellschaftskritischer Roman, der versucht, die Gesellschaft oder einen Teil der Gesellschaft an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit abzubilden.« Für Manchette waren das die Jahre nach 1968. Jetzt hat sich der noch junge Heilbronner Distel-Verlag Manchettes und des Neo-Polar angenommen. Sieben Romane Manchettes sind bisher in Neuübersetzungen erschienen.

Seine Geschichten tragen bei aller Gesellschaftskritik fatalistische Züge, sie sind realistisch und hart, dabei aber voll hintergründigem Humor. Man merkt ihnen die Arbeit ihres Autors beim Film im positiven Sinne an. Sie sind präzise geschnitten und rasant erzählt. Manchette hält Distanz zu seinen Figuren, bleibt außerhalb, bietet keinerlei Identifikationsmoment und hält sich auch mit Werturteilen zurück. Bei ihm wird nicht gedacht, und trotzdem ist sein Personal, das er mit wenigen Sätzen charakterisiert, glaubwürdig. Er macht seine Figuren griffig, bevor er sie auf eine Achterbahnfahrt ins Leere schickt.

In seinem von Claude Chabrol verfilmten Roman »Nada« entführt eine bunt zusammengewürfelte Anarchistengruppe den amerikanischen Botschafter in Paris, ohne klare Forderungen zu stellen. Sie versteckt sich auf einem Landgut und wird schließlich von Polizeikräften exekutiert. Nichts bleibt übrig.

Ein ähnliches Moment findet sich auch im »Westküstenblues«, der von Jacques Deray mit Alain Delon verfilmt wurde. Dort stolpert Georges Gerfaut über eine Leiche und stürzt dabei fast selbst aus dem Leben. Er liest nachts ein Unfallopfer auf und bringt es ins Krankenhaus. Der Verletzte stirbt dort, allerdings nicht an den Folgen des Unfalls, sondern weil er vier Kugeln im Bauch hat. Einige Tage später entgeht Gerfaut nur knapp einem Mordanschlag. Er flieht, verlässt seine Familie, taucht verletzt im Zentralmassiv unter und wird Monate später selbst zum Mörder.

Manchette treibt die Handlung auf einen Schluss zu, den er schon auf den ersten zwei Seiten vorwegnimmt. Aber die Leser werden nicht enttäuscht. Atemlos erreichen sie einen Punkt, den sie schon kennen und der sie trotzdem überrascht. Zurück im normalen Leben und ergeben in die jeweilige Situation, ist für Gerfaut das blutige Intermezzo nur noch ein fernes Abenteuer. Gerade so, als wäre nichts passiert.

Jean-Patrick Manchette: Westküstenblues. Distel, Heilbronn 2002, 176 S., 10 Euro