Parteitag der Grünen

Die Struktur hat gesiegt

Claudia Roth und Fritz Kuhn haben sich verschätzt. Die grüne Basis stimmt allem zu, außer der Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat.

Ausgerechnet Claudia Roth, die sich sonst so ausufernd freuen kann, war den Tränen nahe. »Ich bin nicht sauer, aber manche Argumente finde ich irritierend«, schluchzte sie beinahe. Auch Fritz Kuhn hatte einen Kloß im Hals. Er sagte, er sei »traurig«, und es hörte sich an wie »zornig«. Die beiden Parteivorsitzenden der Grünen hatten eine schwere Schlappe erlitten. Und das Schlimmste daran war, sie hatten sich selbst ausmanövriert.

Denn als am Samstag auf dem grünen Parteitag in Bremen die Diskussion um die Laufzeitverlängerung für das Atomkraftwerk in Obrigheim schon wieder so vergessen schien wie das Parteiprogramm der Grünen, lehnte die Basis die von der Führung gewünschte Aufhebung der Trennung von Amt und Mandat ab. Es war ein Desaster für Kuhn und Roth. Denn sie hatten angekündigt, nur dann Vorsitzende der Partei zu bleiben, wenn sie auch ihre Abgeordnetenmandate wahrnehmen könnten. Kuhn und Roth hatten zu hoch gepokert.

Zwar zeigten sich die meisten Delegierten sehr professionell und folgten den Wünschen der Parteiführung. Doch am Ende fehlten 20 Stimmen. Die Zweidrittelmehrheit für eine Satzungsänderung kam nicht zustande, die Gesichter von Kuhn und Roth wurden immer länger. Man konnte die Enttäuschung verstehen. Wer würde nicht in diesen wirtschaftlich schlechten Zeiten den gut bezahlten Posten als Abgeordnete dem schlechter bezahlten als Parteivorsitzende vorziehen oder am besten beide einnehmen? Würde man etwa als Vorsitzende von der Parteibasis abgestraft, hätte man wenigstens noch das Abgeordnetenmandat inne. Sicher ist sicher.

Die scheidende Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller hatte sich in der Debatte noch mal ins Zeug geworfen und beschworen, man brauche einen starken Bundesvorstand, »der auch im Bundestag reden kann, da wo die Musik spielt«. Doch dann spielte ein anderer auf: Hans-Christian Ströbele. Er warnte eindringlich vor der Ämterhäufung. Eine Bundesvorsitzende, die der Regierungs- und Fraktionsdisziplin unterliege, könne die Partei nicht unabhängig vertreten. Roths Wort von der »kritischen Solidarität« mit den USA im Gegensatz zu Schröders »uneingeschränkter Solidarität« nach dem 11. September 2001 sei nur deshalb möglich gewesen, weil Roth nicht der Fraktion angehörte. Mehr als ein Drittel der Delegierten sah die Vorteile dieser Art von Arbeitsteilung.

Das inszeniert wirkende Geschimpfe auf Bundeskanzler Gerhard Schröder und die SPD wegen Obrigheim half der Parteiführung am Ende also nicht. Am Freitag hatte sie sich mal kurz an die Spitze der Anti-Atom-Bewegung gesetzt. »Ich weigere mich anzuerkennen, dass ich über Obrigheim happy bin«, sagte Bundesaußenminister Joschka Fischer. Obrigheim sei ein »Schatten über dem Koalitionsvertrag«, meinte Fritz Kuhn. Die neue Fraktionsvorsitzende der Grünen, Krista Sager, beteuerte: »Natürlich finden wir Obrigheim sehr ärgerlich. Da gibt es kein Vertun.« Und Bundesumweltminister Jürgen Trittin grollte: »Das lassen wir den Sozialdemokraten nicht durchgehen, dass sie die Zusage, die der Kanzler gegeben hat, den Grünen in die Schuhe schieben.«

Dass das Atomkraftwerk in Obrigheim nicht wie vorgesehen am Anfang des nächsten Jahres abgeschaltet wird, sondern zwei Jahre länger in Betrieb sein darf, wurde heftig kritisiert. Doch der Ärger war nicht so groß, dass irgendjemand Jürgen Trittin gefragt hätte, was er denn wann über den Vorgang gewusst habe.

Schon vor Monaten soll Schröder in einer geheimen Absprache dem Vorstandsvorsitzenden der Energie Baden-Württemberg (EnBW), Gerhard Goll, eine längere Laufzeit versprochen haben, im Gegenzug stimmte dieser dem so genannten Atomkonsens zu. Demokratie ist, wenn man's hintenrum macht. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung und der Berliner Zeitung soll Trittin darüber informiert gewesen sein. Bei dem entscheidenden Gespräch zwischen Schröder und Goll war offenbar auch Trittins Staatssekretär Rainer Baake anwesend. Trittin dagegen behauptet, erst nach der Bundestagswahl von der Zusage erfahren zu haben.

In seiner Rede auf dem Parteitag ging Trittin gar nicht erst auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein. Und die Delegierten störten sich nicht weiter daran. Kritische Fragen? Nein, danke. So funktioniert die rot-grüne Koalition: Der Bundeskanzler gibt Zusagen im Hinterzimmer, der Umweltminister hält dicht, weil er vor der Bundestagswahl keine schlechten Schlagzeilen will, und die Basis jubelt ihm nachher zu, weil sie auch keine schlechten Schlagzeilen will.

Trittin bekam für seine Rede viel Applaus. Die Delegierten verdrängten einfach sein offensichtliches Mitwissertum und zeigten sich gewohnt regierungsfähig. Der rot-grüne Koalitionsvertrag mit dem Namen »Erneuerung - Gerechtigkeit - Nachhaltigkeit« wurde mit großer Mehrheit angenommen.

So ist sie eben, die grüne Basis. Geht es um die berüchtigten »Essentials« der Partei, wie den Pazifismus oder den Atomausstieg, lässt sie gerne fünfe gerade sein und sich von der SPD über den Tisch ziehen, wie es sich für einen verlässlichen Koalitionspartner gehört. Aber geht es um die Trennung von Amt und Mandat, zeigt sie sich störrisch. Zumindest ein Drittel der Delegierten. Und das hatten die Strategen unterschätzt.

Insofern war es der Parteitag von Hans-Christian Ströbele. Er scheint von seinem Direktmandat und seiner neuen Unabhängigkeit eifrig Gebrauch machen zu wollen. Wie Ströbele mit Kuhn und Roth in der künftigen Fraktion zusammenarbeiten wird, wird interessant zu beobachten sein. Dass sich die Parteivorsitzenden schon geschlagen geben, ist schwer zu glauben. Möglicherweise wagen sie schon auf dem Parteitag im Dezember, wenn die Neuwahl der Parteivorsitzenden ansteht, den nächsten Versuch unter dem Namen »Kompromissvorschlag«. Vielleicht wird so lange gewählt, bis das Ergebnis stimmt.

Ströbele gibt erstmal weiter den Widerständler. Zusammen mit Winfried Hermann forderte er am vergangenen Wochenende in Bild am Sonntag einen Abzug der deutschen Spürpanzer aus Kuwait. Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) will die Panzer nur bei einer Verwicklung in den Krieg abziehen. Ströbele kündigte an, im November im Bundestag gegen eine Mandatsverlängerung zu stimmen. Es droht neues Ungemach.

Aber letztlich werden die Grünen und die Koalition die paar Gegenstimmen aus dem Kreis um Ströbele auch in Zukunft verkraften können. Die Grünen von heute sind eine moderne Regierungspartei. Sie sind flexibel. Einmal üben sie sich in der Staatsräson, ein andermal mimen sie die Opposition in der Regierung, die enttäuschten kleinen, aber trotzdem verlässlichen Partner. Immer mehr Karrieristen drängen nach vorne, wie etwa die frisch gekürte Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, die sich vor allem mit ihren unsozialen Vorschlägen in der Rentenpolitik für einen Posten empfohlen hat und über die ihre zukünftige Kollegin Krista Sager sagt, sie kenne im Bundestag »alle Tricks und Kniffe und Wege«. Völlig zu Recht hat Ströbele angemerkt, dass gerade die Struktur der Partei derselben zum Wahlsieg verholfen habe. Auch wenn er es anders gemeint hat.

Gemeinsam mit der SPD, in der die Zustimmung zum Koalitionsvertrag am vergangenen Sonntag noch reibungsloser zustande kam, können die Grünen nun vier weitere Jahre das »Land erneuern«, wie es in der Sprache von Rot-Grün heißt. Fritz Kuhn hat die schwierige Aufgabe beschrieben: »Das Schiff Deutschland muss auf hoher See saniert werden - und nicht im gemütlichen Trockendock.« Eine Schwimmweste, bitte.