»Nichts als die Wahrheit«

Eins mit Sternchen

Dieter Bohlen verblüfft in seinem Bekenntnisroman »Nichts als die Wahrheit« mit philosophischen Einsichten.

Die jüngere Philosophiekritik hat, nicht zuletzt von der feministischen Forschung getrieben, gerade den Begriff der Wahrheit einer radikalen Neuinterpretation unterzogen. Die Wahrheit wird ihrer angeblich zeitlosen und ahistorischen Gültigkeit beraubt und in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt. »Nichts als die Wahrheit« lautet folglich der dekonstruktivistische Titel der brisantesten Neuerscheinung dieses Herbstes. Der Autor, Dieter Bohlen, formuliert sehr subjektbezogen: »Ich gehöre nicht zu diesen männlichen Theoretikern, die so schakra- und omm-mäßig zweimal im Monat bei ihrer Frau den Energiekanal suchen.«

Bohlen sucht häufiger, und er trägt seinen modifizierten Wahrheitsbegriff mit einem Gleichnis vor: als Biografie von »Deutschlands erfolgreichstem Pop-Komponisten aller Zeiten«. Darin führt er das Blochsche Prinzip Hoffnung und das Jonassche Prinzip Verantwortung einer subjektorientierten Radikalisierung zu. So gelingt es Bohlen, einen neuen Wertekatalog für das 21. Jahrhundert vorzulegen. Ganz wichtig: das Prinzip Ehrlichkeit. Bohlen geht es um gelebte Dissidenz, deren prioritäre Erscheinungsform das permanente Bekenntnis zur Wahrheit ist. »Hier bin ich, leckt mich alle! Euer Dieter.« So fasst Bohlen die Bereitschaft zur transparenten Authentizität hübsch in einen kategorischen Imperativ.

Aus der Zeit des Künstlers als junger Mann ist zu erfahren: »Ich schrieb Sätze wie 'Ich bin gegen Kapitalisten' oder 'Kampf dem STAMOKAP!' in meine Aufsätze.« Dieser von juvenilem Aktionismus geprägten Rebellion stellt der späte Bohlen Nachdenklichkeit entgegen: »Man ist kein Mensch, man ist eine Aktie.« Revolutionäre Praxis findet keine positive Resonanz. »Du kannst nicht hingehen und jemanden auf die Fresse hauen oder ihm eine Knarre an den Kopf halten und sagen: 'Jetzt raus mit der Kohle!' Das geht in Deutschland eben nicht«, weiß Bohlen.

Hier sind die Diskurse historisch determiniert. »In diesen ganzen Irrsinn schalteten sich schließlich auch noch die Israelis ein und ereiferten sich über die Frage: 'Wie kann Deutschland 40 Jahre nach dem Krieg einen Titel präsentieren, der 'Der Flieger' heißt?« erinnert sich Bohlen an seinen Grand-Prix-Beitrag von 1989, den Nino de Angelo vortrug (Platz 14). Solche Rückschläge, die der öffentliche Diskurs dem sich schonungslos offenbarenden Künstler antut, sind, darauf beharrt Bohlen, eine Chance für die künstlerische Entwicklung.

Ein misslungener Auftritt in London erhöhte beispielsweise die Sprachkompetenz: »Ich lernte noch drei weitere Worte Englisch: 'Nazi, piss off!'« Zu ertragen sind Rückschläge durch Positiverlebnisse, die in anderen Kontexten durchaus möglich sind, etwa in Russland: »Die waren schon heftig drauf, die Russen.« Oder in der DDR: »Die Leute in der Zone, das waren immer meine wahren, meine Hardcore-Fans.«

Die Künstlerseele mag verletzbar sein, sie wird aber kreativ erst durch Anfechtung. Gegen schwedische Zollbeamte muss die Autonomie der Kunst verteidigt werden: »Hey sagt mal, ihr Knäckebrotgesichter! Seid ihr denn alle voll bekloppt hier?« Aber nicht nur der politischen Sphäre (Zollbeamte), auch der ökonomischen (Chefs in der Plattenfirma) muss sich Bohlens Künstler verweigern: »Das waren alles greise Kacker für mich, die meine Musik nicht verstanden.«

Kulturelle Interaktion, das weist Bohlen eindringlich nach, hat auch einen Resonanzboden im intergeschlechtlichen Austausch. Bohlen vollzieht hier die Erweiterung der Staats- und Klassenanalyse um ihre genderspezifischen Aspekte, die auch vor der Reproduktionssphäre nicht haltmacht: »Und Abwaschen finde ich schon mal ganz unmännlich.« Dieser intergeschlechtliche Austausch ist nicht ahistorisch zu verstehen, sondern ökonomisch fundiert. Er beobachtet beispielsweise, »dass alle Frauen, mit denen ich zusammen bin, mich nur wegen der Kohle lieben«. Zum Beweis führt Bohlen mehrere exemplarische Frauentypen an. Etwa die frühere Freundin des Künstlers, Nadja ab del Farrag: »Sex mit Naddel ist wie Eins mit Sternchen, Nudeln mit Trüffeln, Eis mit Sahne - da muss man nix können.«

So konstituiert sich Nähe: »Wenn uns überhaupt mal was trennte, dann war es die Klotür.« Das künstlerische Individuum, so lehrt es Bohlen, muss sich jedoch auch mit Unzulänglichkeiten des geschlechtlichen Gegenübers arrangieren: »Schließlich beschloss ich, dass mir Naddels nicht vorhandene hausfrauliche Ambitionen egal sein sollten.« Das gilt auch für einen weiteren Frauentypus, repräsentiert von Verona Feldbusch. »Und ich dachte mir: Komm, die ist zwar ein bisschen behindert, aber die reißt du jetzt auf!« Es wirkt aber das abendländische Prinzip des Zweifels. »Beim Fummeln im Auto« kamen ihm »als begeistertem Hobbyforscher« plötzlich »deutliche Zweifel, dass das alles vom lieben Gott war«.

Mit dem Prinzip Ehrlichkeit konkurriert plötzlich das Prinzip Echtheit: »Als sie sich jetzt auf dem Bett räkelte, ragten ihre Dinger wie zwei stramme Eisberge in die Luft.« Das ist für die Entwicklung der bohlenistischen Philosophie ein zentraler Konflikt, in der literarischen Darstellung wird es zur Klimax der Hochzeit verarbeitet. Die Ehe scheitert, die widerstreitenden Prinzipien erweisen sich als nicht kompatibel, und das künstlerische Subjekt begibt sich in den Trauerarbeitsprozess: »Ich war irrsinnig traurig, ich weinte. Die Härte kriegte ich nicht gebacken.« Aber Erkenntnis reift: »Heute weiß ich: Verona ist verhaltensgestört, sie ist schizophren, so eine Art Frankenstein-Kreuzung aus Mutter Beimer, die einen an ihren Busen drückt, und Alice Schwarzer mit Eierklemmen.«

Ehrlichkeit und Echtheit, die miteinander konkurrierenden Prinzipien, finden ihre Aufhebung im Hegelschen Dreifachsinn. Bohlen formuliert ein allgemeingültiges Bohlen-Theorem: »Das Problem ist ja, in einer Beziehung ist immer der der Stärkere, der weniger fühlt für den anderen.« Diesen Lehrsatz begründet Bohlen nicht nur empirisch, sondern auch psychoanalytisch: »Wie sagt Opa Sigmund Freud immer? Wahre Liebe entsteht nur durch Schnackseln.« Doch eine Rettung des Künstlers und damit der Kunst ist nur denkbar, wenn auch ein historisch neuer Frauentyp entwickelt wird: Estefania Krüger, des Künstlers aktuelle Verlobte. Die Hegemonisierung der Frau gelingt, so weist Bohlen nach, nur durch ein Verfahren, das man im Gramscischen Sinne als Integration via Diskurs bezeichnen kann: »Wir fingen an zu quatschen, so press-press und bröckel-bröckel.«

Nur diskursiv lässt sich die Souveränität des Künstlers erlangen, so entsteht »das typische Bohlen-Bild. Ich in Lederklamotten in irgendeiner Disse. Dicht daneben auf Hautkontakt ein hübsches Girl mit Multi-Kulti-Schüttel-Shake-Genen.« So, dabei ist es nicht unwichtig, dass die Begleiterin »Schokoflockie-Gene« hat, stellt sich der soziale Kontext her, in dem das Bohlensche Prinzip Ehrlichkeit Wirkungsmacht entfalten kann. Es ist dies der Kontext, in dem endlich dem Individuum eine gewisse Entfaltungsfähigkeit zugesprochen werden kann: »Gutes Licht, Rückenmassagen, dann Runterküssen à la Ed von Schleck - ich hab zwar nicht so ein Büchlein '34 Bomben-Tipps, wie ich eine Lady flachlege', aber ich kann nur sagen: Es gibt ein paar Sachen, die es jeder Frau leichter machen, sich fallen zu lassen. Geprüft von Dr. Bumssiegel.«

Nach »Nichts als die Wahrheit« muss die Philosophiegeschichte neu geschrieben werden.

Dieter Bohlen (zusammen mit Katja Kessler): Nichts als die Wahrheit. Heyne Verlag, München 2002, 335 S., 20 Euro