Selbstverwaltung suspendiert

London Ruling

Die britische Regierung übernimmt wieder die Kontrolle über Nordirland. Für lange Zeit, wie viele befürchten.

Als der britische Nordirlandminister John Reid in der vergangenen Woche vor dem Parlament in Westminster die Suspendierung der nordirischen Selbstverwaltung erläuterte, klang es fast so, als sei das nur ein weiterer wichtiger Schritt im Friedensprozess. Die Wiedereinführung britischer Kontrolle über die Provinz schaffe eine wichtige Atempause, die helfen könne, den Prozess wieder voranzubringen. Nun sei es möglich, neue Kraft zu sammeln, bevor die Verhandlungen fortgesetzt würden. »Ich hoffe, dass wir bald aus dieser Sackgasse herauskommen«, erklärte Reid. Er habe seine Entscheidung widerwillig getroffen, um den totalen Kollaps des Friedensprozesses abzuwenden.

Zum vierten Mal seit dem Inkrafttreten des Karfreitagsabkommens im Jahr 1998 wurde am Montag der vergangenen Woche die unter Republikanern und Unionisten paritätisch aufgeteilte Selbstverwaltung der nordirischen Provinz ausgesetzt. Bei Durchsuchungen von Büroräumen der der IRA nahe stehenden Partei Sinn Féin hatte die Polizei vertrauliche Regierungsdokumente gefunden, die angeblich von einem Spionagering der IRA aus den Regierungsgebäuden entwendet worden waren.

Neben den persönlichen Daten von 2 000 nordirischen Gefängniswärtern fanden die Beamten Niederschriften von Telefongesprächen führender britischer Politiker. Vier Personen wurden verhaftet, unter anderem der Verwaltungschef der Sinn Féin, Denis Donaldson.

Die Loyalisten der gemäßigten Ulster Unionist Party (UUP) von David Trimble, dem bisherigen Ersten Minister der Provinzregierung, und die radikale loyalistische Democratic Unionist Party (DUP) forderten daraufhin den Ausschluss der Sinn Féin aus der Allparteienregierung. Noch vor der Suspendierung der Selbstverwaltung hatten Minister der DUP ihre Ämter niedergelegt.

Schärfere Worte als Reid fand der britische Premierminister Tony Blair bei seinem Besuch in Nordirland am vergangenen Donnerstag. Man sei nicht in einer Sackgasse angelangt, sondern an einem Wendepunkt, meinte Blair, der die weitere Zukunft vom Verhalten der IRA abhängig machen will. »Wir können nicht fortfahren, wenn die IRA zur Hälfte innerhalb und zur Hälfte außerhalb des Friedensprozesses steht. Nicht nur, weil es nicht mehr rechtens wäre, sondern weil es auch nicht mehr funktioniert«, sagte Blair.

Symbolische Gesten wie in der Debatte um die Entwaffnung der IRA im vergangenen Jahr reichen dem Premier jedenfalls nicht mehr aus. Blair reiste zum Sitz der Provinzregierung in Stormont, um die Parteien zur Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit zu bewegen. Er machte beiden Seiten Zugeständnisse und erklärte, dass er auch die Zweifel der Katholiken verstehe, die lange als »Bürger zweiter Klasse« behandelt worden seien.

Solche freundlichen Worte werden jedoch kaum ausreichen, die Republikaner vom guten Willen der britischen Regierung zu überzeugen. Der Vorsitzende der Sinn Féin, Gerry Adams, bezeichnete den Polizeieinsatz gegen seine Partei als politischen Angriff auf das Karfreitagsabkommen. Der Vizepräsident der Partei, Pat Doherty, fügte hinzu: »Es ist jedem klar, dass das Eindringen in unsere Büros dazu gedacht war, den Unionismus in seinem derzeitigen Widerstand gegen das Abkommen zu unterstützen.«

Zumindest zeigte sich bei der Durchsuchung, dass die Unionisten über gute Kontakte zur Polizei verfügen. Sie waren bereits unmittelbar nach dem Einsatz über den Inhalt der beschlagnahmten Dokumente informiert.

Die Durchsuchungen und die Verhaftungen seien ein »makabrer Witz«, kommentierte auch die britische Tageszeitung The Guardian. Die nordirische Polizei könne keine Mörder dingfest machen, wohl aber mutmaßliche Spione verfolgen, meinte die Zeitung und verwies auf die jüngsten Anschläge der loyalistischen Paramilitärs.

Tatsächlich wurden nicht nur die Morde an dem irischen Journalisten Martin O'Hagan und der Anwältin Rosemary Nelson von den Paramilitärs verübt. Die Ulster Defence Association (UDA) und die zu Beginn des Jahres offiziell aufgelösten Red Hand Defenders sind nach wie vor an zahlreichen gewaltsamen Aktionen beteiligt.

Die Unionisten sind stets bemüht, Verbindungen zu den militanten Loyalisten herunterzuspielen. So verurteilte Trimble zwar die Gewalt der Paramilitärs, wies aber gleichzeitig jeden Zusammenhang mit der aktuellen Krise zurück. Die loyalistischen Kommandos gehörten schließlich keiner Regierungspartei an, während die Sinn Féin eine private Armee unterhalte, um politische Ziele zu erreichen.

Dass die IRA jedoch seit Jahren keine Anschläge mehr durchgeführt hat, interessiert Trimble wenig. Und auch seine Erklärung, dass die loyalistischen Paramilitärs völlig autonom agierten, ist zweifelhaft. Immerhin werden der an der Regierung in Stormont beteiligten DUP enge Kontakte zur militanten UDA nachgesagt.

Kein Wunder also, dass die Vertreter der Republikaner auch weiterhin die republikanischen Untergrundorganisationen verteidigen. »Die IRA existiert noch, weil die Republikaner sich noch verwundbar fühlen«, erklärte Danny Morrison, ein ehemalige Sprecher der Sinn Féin. Er dachte an Rohrbombenanschläge auf die Häuser katholischer Familien und an die Auseinandersetzungen vor katholischen Schulen im letzten Jahr. »Sie wird aber erst wieder aktiv werden, falls die staatlichen Organe Katholiken angreifen oder ihnen ihre Rechte verweigern«, meinte Morrison. »Wir wollen erst wissen, ob der Krieg wirklich vorbei ist.«

Die nordirische Bevölkerung zumindest glaubt mittlerweile immer weniger an friedliche Aussichten. Nach einer Umfrage, die unmittelbar nach der Suspendierung der Selbstverwaltung durchgeführt wurde, begrüßten nur noch 56 Prozent der Befragten das Karfreitagsabkommen. Bei seiner Einführung im Jahre 1998 betrug die Zustimmung noch 70 Prozent. Vor allem der katholische Bevölkerungsteil fürchtet, dass die britische Direktverwaltung noch lange dauert.

Dass die Skepsis durchaus berechtigt ist, zeigen sogar die Äußerungen Reids. Er hofft zwar, der Friedensprozess könne bis zu den Wahlen im Mai des kommenden Jahres erneuert werden, stellte aber gleichzeitig in Aussicht, dass sie eventuell verschoben werden müssen.

Und selbst wenn sie stattfinden, könnten die Probleme noch größer werden. Es ist gut möglich, dass die DUP die gemäßigtere Partei Trimbles bei den Wahlen überholen könnte. Und eine neue Regierung, die sich aus radikalen Loyalisten und der Sinn Féin zusammensetzt, wird vermutlich nicht besser kooperieren als die alte.