Russland und die Ost-Erweiterung der EU

Um Schengens willen

Die russische Regierung fürchtet, nach der Ost-Erweiterung der EU die Kontrolle über Kaliningrad zu verlieren.

Manchmal versteht Wladimir Jegorov die Welt nicht mehr. Die ganze Angelegenheit sei doch sehr einfach zu regeln. »Man fragt nicht um die Erlaubnis der Nachbarn, um sein eigenes Zuhause zu betreten«, erklärte der Gouverneur der russischen Exklave Kaliningrad vor zwei Wochen sichtlich erzürnt auf einer Pressekonferenz.

Doch genau das hat die Europäische Union im Sinn. Wenn Litauen und Polen in zwei Jahren der Union beitreten, sollen die 1,3 Millionen Bürger Kaliningrads beim Verlassen oder Betreten der Enklave ebenso ein Visum vorzeigen wie russische Staatsbürger bei der Einreise in die EU.

Für Russland ist das Beharren der Union auf den Regeln des Schengener Abkommens im Falle Kaliningrads allerdings unannehmbar. Immerhin gehe es nur um den Transit durch das Territorium der EU und im eigentlichen Sinne nicht um eine Einreise. Was spätestens seit der Empfehlung der EU-Kommission im September, insgesamt zehn neue Staaten aufzunehmen, darunter eben auch Polen und die baltischen Republiken, akut wurde, ist schon seit langem ein Konfliktthema zwischen Moskau und Brüssel.

Nun aber drängt die Zeit. Für den 11. November wurde ein Gipfeltreffen angesetzt und Russlands Präsident Wladimir Putin möchte bis zu diesem Termin den Streit um Kaliningrad beendet wissen. »Wenn es bis dahin keine Lösung gibt, werde ich dem Herrn Präsidenten empfehlen, am Gipfel nicht teilzunehmen«, erklärte kürzlich Dimitri Rogosin, Putins Sonderbeauftragter für die Region Kaliningrad. »Wir bleiben flexibel, aber unsere Kompromissbereitschaft hat Grenzen. Wir bestehen weiter auf einem freien Transit russischer Bürger von Russland nach Russland.«

Die Chancen auf einen zufrieden stellenden Kompromiss stehen schlecht, denn besonders die EU fürchtet eine nachhaltige Schwächung des strengen Grenzregimes im Falle einer freizügigen Lösung für die Bürger der Region. Das bisher größte Zugeständnis aus Brüssel sieht die Einführung eines so genannten Kaliningrad-Passes vor. Der Ausweis ist zwar für russische Staatsbürger genauso schwer zu bekommen wie ein gewöhnliches Visum, dafür erlaubt er aber mehrmalige Grenzübertritte.

Russland fordert hingegen eine grundsätzliche Abschaffung des Visumszwanges für seine Staatsbürger. Weil diese Vorstellung unrealistisch ist, schlug Putin nun einen weiteren Kompromiss vor, ohne bislang eine positive Antwort aus Brüssel zu erhalten. Plombierte Züge sollen zwischen Russland und Kaliningrad pendeln, sodass »russische Staatsbürger ihren Fuß nicht auf das Territorium der Europäischen Union setzen«, wie Putin versicherte.

Genau darauf möchte sich die EU aber nicht verlassen. Sie fürchtet, dass die Transitreisenden durchaus in der Lage sein könnten, solche Züge zur illegalen Einreise zu benutzen, und sei es mit einem gewagten Sprung aus dem Waggon.

Gouverneur Jegorov hat zwar vorgerechnet, dass »im letzten Jahr genau 18 russische Bürger auf solchem Wege auf litauisches Territorium gelangt sind. Das kann keine Bedrohung für die Europäische Union sein.« Doch in Brüssel ist man von diesem Argument wenig überzeugt. Als Mitglied der EU sei Litauen schließlich wesentlich attraktiver für russische Bürger.

Der Regierung in Moskau geht es bei den Verhandlungen um mehr als nur die freizügigen Reisebestimmungen für ihre Bürger. Sie fürchtet, langfristig die Kontrolle über die Enklave zu verlieren. Kaliningrad ist für Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion noch immer ein wichtiges politisches Thema. Denn nachdem sich die baltischen Staaten im Jahr 1991 für unabhängig erklärt haben, ist die russische Souveränität über Kaliningrad sehr eingeschränkt. Nicht einmal Nachschub für den Hafen der baltischen Flotte Russlands kann auf dem Landweg geliefert werden, ohne dass Litauen oder auch Polen davon Kenntnis erhalten oder solche Transporte im Zweifel sogar verhindern könnten.

Eine weitere Isolation Kaliningrads könnte auch drastische Auswirkungen auf die Lebensbedingungen haben. Schon jetzt hat die Enklave den schlechtesten Lebensstandard aller russischen Regionen. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist miserabel, es gibt sogar noch Krankheiten, die in Europa eigentlich schon längst besiegt sind, wie etwa die Tuberkulose.

Besonders kompliziert wird die Angelegenheit auch noch wegen der besonderen Interessen Polens und Litauens. Beide Staaten fürchten sich vor einer Sonderregelung, die zu ihren Lasten gehen könnte. »Jede Vereinbarung zwischen Russland und der EU sollte nicht dazu führen, dass vor uns neue Hürden aufgestellt werden«, verlangt der litauische Parlamentspräsident Arturas Paulaskas.

Eine Einigung, die den Einwohnern von Kaliningrad Reisen ohne Visum erlaubt, könnte für Litauen Folgen haben. Aus Sicherheitsgründen würde die EU dem Land wahrscheinlich erst nach einer sehr langen Übergangsfrist die Teilnahme am Abkommen von Schengen - und damit offene Grenzen innerhalb der Union - ermöglichen.

Hinzu kommt, dass Putin bei den Verhandlungen mit der EU unter starkem innenpolitischen Druck steht. Die nationalistische Opposition und auch Teile der Armee beobachten die Annäherung des Präsidenten an den Westen schon lange mit Misstrauen. Die Zugeständnisse an die USA beim Kampf gegen den Terror, der schwindende Einfluss in Zentralasien und die zweideutige Haltung der Regierung zum Irak haben die Opposition sehr aufmerksam gemacht. Kommt die Regierung dem Westen auch noch bei den Verhandlungen über Kaliningrad entgegen, könnte das der Anlass für heftige Attacken sein.

»Es geht hier auch um die öffentliche Meinung in Russland«, beschrieb der Sonderbeauftragte Rogosin kürzlich die Sorge seiner Regierung. »Bei den Russen darf nicht der Verdacht aufkommen, der Westen mache sich über sie lustig.«