Musikfernsehn in Deutschland

Video killed Artist and Repertoire

Das Fachbuch »Musikfernsehen in Deutschland« bietet die richtige Mischung aus Medienwissenschaft und coolem Wissen.

Gut 20 Jahre nachdem das erste Video über den neu gegründeten Sender MTV flimmerte, befindet sich das Medium Musikfernsehen in einer Sinnkrise. Sowohl in den USA als auch in Deutschland wird das Programm mehr und mehr von nicht musikalischen Formaten dominiert. Zeichentrickserien (»Daria«, »King of the Hill«, »Goldenboy«), Spielshows (»Dismissed«, »I Bet You Will«) oder Realityformate (»Jackass«, »The Osbournes, »The Real World«) erzielen weitaus bessere Einschaltquoten und haben vor allem eine längere Verweildauer als ein bunter Reigen dreiminütiger Musikclips. Gleichzeitig wurden die beiden Spin-Offs der deutschen Konkurrenten auf dem Musikfernsehmarkt MTV und Viva in den letzten Jahren schrittweise von musikjournalistisch geprägten und oftmals hochwertigen Programmen in ein unmoderiertes Clipkarussell umgewandelt. Aus VH-1 wurde MTV Pop, aus Viva Zwei wurde Viva Plus, mittlerweile sind beide ein redaktionell unbetreutes Wasteland (Jungle World, 40/02).

Dass es diese Krise nicht genügend thematisiere, ist der einzige Vorwurf, den man dem im September erschienenen Fachbuch »Musikfernsehen in Deutschland. Politische, soziologische und medienökonomische Aspekte« machen kann. Ein Mangel, der zumindest teilweise der ausgedehnten Vorlaufzeit eines solchen Projekts geschuldet sein dürfte. Ansonsten ist den Autoren jedoch ein achtbares Werk über ein Medium gelungen, dem in Deutschland eine ausführliche akademische Auseinandersetzung bislang verwehrt blieb.

Abgesehen von der bei Suhrkamp erschienenen Aufsatzsammlung »Viva MTV!« (1999) und einigen Diplom- und Magisterarbeiten zu verschiedenen Einzelaspekten wurde das Thema bislang fast ausschließlich im englischsprachigen Raum verhandelt. Umso erfreulicher ist es, dass mit »Musikfernsehen in Deutschland« endlich ein Buch vorliegt, das dieses Thema für Einsteiger interessant und nachvollziehbar aufbereitet, aber auch tief genug schürft, um für Leser relevant zu sein, die sich bereits mit der Thematik beschäftigt haben.

Geschrieben wurde das Buch von einer PR-Frau, einem Medienwissenschaftler sowie von dem Promoter eines Plattenlabels, also von drei sehr unterschiedlichen Autoren, die jeweils ein spezifisches Fachwissen und eine eigene Herangehensweise haben. Das ist gerade bei diesem Sujet gut und sachdienlich, weil es sich beim Musikfernsehen um ein mit anderen Systemen verzahntes Medium handelt.

So stellen Videoclips beispielsweise gleichzeitig Werbebotschaften und Programminhalte dar, und das Musikfernsehen liefert gleichermaßen Informationen für seine Rezipienten wie es auch selbst zum Gesprächsstoff wird. Von den offensichtlichen Verbindungen zur Tonträgerindustrie, die sich wie beim deutschen Unternehmen Viva auch in der Gesellschafterstruktur zeigen, ganz zu schweigen.

Die Autoren erörtern zunächst die Bedeutung von Popmusik und Popkultur vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der von Veränderungsprozessen wie der Individualisierung und dem Wertewandel geprägt ist. Die Kommerzialisierung der Popkultur wird dabei ebenso unter die Lupe genommen wie die zunehmende Internationalisierung der Lebenswelten gerade junger Menschen. Im Anschluss daran werden der Untersuchungsgegenstand genauer betrachtet und sowohl die unterschiedlichen Gestaltungsformen des Musikfernsehens und der Videoclips erläutert als auch das Nutzungsverhalten der Zuschauer dargestellt, wenn auch in sehr gestraffter Form.

Ein schöner Exkurs gelingt mit einer Analyse von »Türlich, türlich«, des umstrittenen Videoclips des Hamburger Rappers Bo. Hier wird deutlich, dass das Buch nicht nur mit wissenschaftlichem Interesse, sondern auch mit einer Leidenschaft für das Medium Musikvideo und dem dazugehörigen »coolen Wissen« geschrieben wurde.

Im weiteren Verlauf wird die Frage nach der politischen Dimension des Musikfernsehens gestellt, dem ja gemeinhin dieselbe politische Relevanz zugebilligt wird wie der Love Parade oder einer Riesenradfahrt inklusive dem Verzehr von Zuckerwatte. Die Autoren behandeln in diesem Abschnitt nicht nur die politische Sozialisation und das politische Bewusstsein der meist jugendlichen Zuschauer, sondern auch die immer stärkere gegenseitige Durchdringung von Pop und Politik, die sich ja gerade auf MTV und Viva in der Vergangenheit sehr anschaulich beobachten ließ.

Es folgt eines der gelungensten Kapitel, in dem die Einbettung in die ökonomischen Strukturen der Musikindustrie und deren Funktionsmechanismen geschildert werden. Die starke Konzentration auf dem Tonträgermarkt wird dabei ebenso diskutiert wie die krisenhafte Situation, in der sich die Musikbranche derzeit befindet. Dabei fällt positiv auf, dass die Autoren nicht allein illegale Kopien und Internetpiraterie für diese Krise verantwortlich machen, sondern auch Fehler und Versäumnisse innerhalb der Branche selbst, wie etwa die Vernachlässigung der A&R-Aktivitäten und eine unnachgiebige Preispolitik.

Den anschließenden Abriss über die Entwicklung des Musikfernsehens in Deutschland konnte man so oder so ähnlich schon an anderer Stelle lesen, er findet sich wohl hauptsächlich der Vollständigkeit halber. Bemerkenswerter ist da schon der letzte Abschnitt des Buches, in dem in einer Quellenanalyse des Viva-Programms erforscht wird, ob die drei Viva-Gesellschafter (AOL Time Warner, EMI und Vivendi Universal) den Musikkanal nutzen, um ihre Produktionen überdurchschnittlich häufig auszustrahlen und gegenüber den Videos der Konkurrenz zu bevorzugen. Die empirische Untersuchung kommt dabei zu dem nicht gerade frappierenden Ergebnis, dass Videos der Gesellschafter tatsächlich häufiger gesendet werden und ökonomische Beweggründe somit über publizistische dominieren.

Insgesamt ist es den Autoren mit diesem Buch gelungen, ein solides Standardwerk zu dem bislang in Deutschland vernachlässigten Thema vorzulegen. Dass sie das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt tun, zu dem von dem Medium keinerlei nennenswerte kreative und innovative Impulse ausgehen, ist mehr als schade, macht das Buch aber nicht weniger aufschlussreich und lesenswert.

Matthias Kurp/Claudia Hauschild/Klemens Wiese: Musikfernsehen in Deutschland. Politische, soziologische und medienökonomische Aspekte. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, 274 S., 29,90 Euro