Viele Profiler, wenig Profil

Sind sie Serienkiller, Terroristen oder Erpresser? Auch nach ihrer Festnahme geben die beiden Washingtoner Sniper allerlei Rätsel auf.

Der Täter ist männlich, fährt einen weißen Van und benutzt ein Gewehr mit Munition des Kalibers .223, ähnlich dem M-16 Sturmgewehr der Armee.« Wochenlang waren das die einzigen Informationen über den Sniper (Scharfschütze, Heckenschütze) von Washington. Am Donnerstag der vergangenen Woche wurden John Allen Muhammad (ehemals Williams), ein 41jähriger Veteran des zweiten Golfkriegs und John Lee Malvo, 17, ein Immigrant aus Jamaica, in Maryland festgenommen. In ihrem Wagen, einem alten Chevrolet Caprice, fand sich eine »zivile« Billigvariante des M-16-Gewehrs. Ballistische Untersuchungen ergaben, dass nahezu alle Schüsse des Snipers mit Sicherheit aus dieser Waffe abgegeben wurden. In den Wochen nach dem 2. Oktober tötete er zehn Menschen, drei wurden verletzt.

Wochenlang beschäftigte der Sniper die US-Medien. Nachdem in den ersten 30 Stunden sechs Attentate verübt worden waren, ließ das Tempo nach. Der Fall geriet zur Personality-Show. Neben Charles Moose, dem Polizeichef von Montgomery County, der die Ermittlungen leitete, bekamen Dutzende offizielle und selbst ernannte Experten ihren Fernsehauftritt. Ihre Profiling-Versuche waren aber fast alle meilenweit vom Ziel entfernt. Als das Sniper-Duo noch frei herumlief, konnte man anhand der Spekulationen über ihre Identität und Motivation wenig, aber allerhand über die der Spekulierenden herausfinden.

Für die »al-Qaida ist unter uns«-Fraktion der Rechtskonservativen, gruppiert um das Kampfblatt National Review, war der Islamismus die Grundlage aller weiteren Spekulationen. Der NR-Autor James S. Robbins schrieb 16. Oktober: »Meine Arbeitshypothese war vom ersten Tag an, dass diese Angriffe eine neue Front des Krieges der islamistischen Terroristen gegen die Zivilisation sind (...) Mit anderen Worten, dies sind nicht die Taten eines kriminellen Psychopathen, sondern eines jihadistischen Kriegers.«

Der Zeitpunkt der Schüsse während einer mutmaßlichen al-Qaida-Offensive, der von dem Netzwerk angekündigte »Krieg gegen die Zivilbevölkerung« und die Wahl der Hauptstadt Washington als Tatort seien weitere Argumente. Der »National Security Analyst« Robbins störte sich nicht weiter an der am 7. Oktober gefundenen Tarotkarte »Der Tod«, beschriftet mit den Worten »Dear Mr. Police, I am God.« Kein ernsthafter Anhänger einer monotheistischen Religion, geschweige denn ein Fanatiker, würde sich als Gott bezeichnen.

Die Tarotkarte war wahrscheinlich eine Antwort auf die am Vortag von Charles Moose geäußerten Sätze: »Er ist ein Möchtegern. Er will Gott sein.« Die Karte wurde in der Nähe einer Schule gefunden. Auch dass am gleichen Tag ein 13jähriger Schüler erschossen wurde, könnte eine Antwort auf eine Äußerung Mooses gewesen sein. Er hatte die Bevölkerung aufgefordert, ihre Kinder weiterhin zur Schule zu schicken; er ging offenbar davon aus, es mit einem »gewöhnlichen« Serienmörder zu tun zu haben. Doch gegen diese Theorie sprachen der Modus Operandi - Schüsse aus 100 Metern gehören nicht zur üblichen Vorgehensweise; Serienmörder ziehen es vor, ihre Opfer von Hand zu töten - und die völlig willkürliche Wahl der Opfer.

Mitte Oktober erging eine Geldforderung in Höhe von zehn Millionen Dollar an die Ermittlungsorgane, einzuzahlen auf das Konto einer gestohlenen Kreditkarte, die zu entsperren sei. Das ist nicht gerade die intelligenteste Art, eine Geldübergabe zu organisieren. Ausgerechnet ein telefonischer Hinweis Malvos auf einen Raubmord in Montgomery, Alabama, führte die Ermittler schließlich zum Ziel. Dort fanden sich Fingerabdrücke Malvos, die zu einer Identifizierung der Täter führten.

Als sich herausstellte, dass es nicht »der«, sondern »die« Sniper waren, war die Überraschung groß. Verbindungen zu militanten Bewegungen oder zum internationalen Terrorismus kann man keinem von beiden unterstellen. Muhammad trat vor zehn Jahren zum Islam über. Doch in der christlichen Obdachlosenunterkunft, wo er und Malvo wie Vater und Sohn lebten, besuchte er den Gottesdienst, wie es die Hausordnung vorschreibt. Muhammad wurde zweimal geschieden, er hat einen langen Sorgerechtsstreit hinter sich, während dessen er der Entführung seiner Kinder beschuldigt wurde. Er ging mit einer Karateschule und einem Auto-Reparaturservice pleite. Als Soldat stand er zweimal vor dem Kriegsgericht. Eine gescheiterte Existenz.

Nun geht das Gerangel um die Einordnung des mörderischen Duos weiter. Staatsanwälte streiten darüber, wer als erster Anklage erheben darf; darüber, dass die Todesstrafe gefordert wird, sind sich alle einig. Schusswaffengegner klagen, dass Muhammad trotz einer gerichtlichen Verfügung, erwirkt von seiner Ex-Frau, eine Waffe kaufen konnte. Sie fordern mehr Geld für die Aktualisierung der zentralen Dateien des FBI, anhand deren die Vergangenheit von Schusswaffenkäufern überprüft wird. Wegen Geldmangels wurde die Verfügung erst mit zwei Jahren Verspätung in das Register eingetragen. Ein entsprechender Antrag wird im Kongress verhandelt, aber von den Republikanern bekämpft.

Die Medien wurden für ihre reißerische Berichterstattung, die Ermittlungsorgane für ihre Pannen kritisiert. Am Sinnvollsten ist wohl noch die Forderung eines in der New York Times zitierten Soziologen, das Profiling völlig aufzugeben, da es viel zu ungenau sei.

Die bislang bekannten Fakten ergeben ein widersprüchliches Bild. Es ging offenbar auch um Geld, doch für eine Erpressung hätte eine geringere Zahl von Todesschüssen genügt. Es scheint, als hätten die Täter ihre Macht über Leben und Tod beweisen wollen. Der psychologische Hintergrund dieses mörderischen Größenwahns muss allerdings eher in den gesellschaftlichen Verhältnissen der USA als in islamistischen Vorbildern gesucht werden.

Die Frage, warum aus Kriegen zurückgekehrte Soldaten sehr häufig Schwierigkeiten mit dem Aufbau einer bürgerlichen Existenz haben, wurde in den US-Medien noch nicht gestellt. In Soldatenfamilien ist die Rate der häuslichen Gewalt fünfmal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Im Juni und im Juli ermordeten in Fort Bragg, North Carolina, fünf aus Afghanistan zurückgekehrte Angehörige der Spezialeinheit Delta Force auf brutale Weise ihre Ehefrauen oder andere Familienmitglieder.

Und ob es richtig ist, dass ein jugendlicher Immigrant wegen fehlender Papiere nicht zur High School gehen darf, sich stattdessen aber von einem durchgeknallten Kriegsveteranen im Gebrauch eines Sturmgewehres unterrichten lassen kann, ist eine weitere Frage, die aufzuwerfen die Morde Anlass böten. Am besten, bevor Malvo von einem Gutachter als erwachsen eingestuft, vom Staatsanwalt dämonisiert und von der den Bevölkerungsdurchschnitt repräsentierenden Jury auf den elektrischen Stuhl geschickt wird.