Gesundheit und soziale Verhältnisse

Klasse Patienten

In der Diskussion um Einsparungen im Gesundheitssystem wird ein Aspekt vernachlässigt. Zwei Berichte aus Nordrhein-Westfalen zeigen, wie Gesundheit und soziale Verhältnisse zusammenhängen.

Wir werden das solidarische Gesundheitssystem erhalten. Eine hochstehende medizinische Versorgung für alle Bürger und Bürgerinnen unabhängig von Einkommen, sozialer Stellung und Wohnort bleibt unser Ziel. Wir lehnen eine Zweiklassen-Medizin ab.« Das verspricht der rot-grüne Koalitionsvertrag. Doch die Zweiklassenmedizin gehört bereits zur Realität, und die unter dem Verdikt des Sparens stehende rot-grüne Gesundheitspolitik wird daran wenig ändern. Es ist eher zu befürchten, dass die von der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) geplanten Einsparungen bei der Pharmaindustrie, bei Ärzten, Apothekern und Krankenhäusern die Lage noch verschlechtern werden.

Es gibt noch so etwas wie Klassenunterschiede. Sie sind aber nicht mehr so offensichtlich wie früher. Zwei Berichte aus Nordrhein-Westfalen geben darüber Auskunft: der über die »Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen« und die als Broschüre veröffentlichte Entschließung der dortigen Landesgesundheitskonferenz mit dem Titel »Soziale Lage und Gesundheit«. Beide lesen sich wie Texte von Pierre Bourdieu.

In ihrem Vorwort zum ersten Bericht musste die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Birgit Fischer (SPD) eingestehen, »dass ein fataler Zusammenhang zwischen der materiellen Lage und der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen besteht«. Beiden Berichten zufolge zeigt sich dieser Zusammenhang bereits bei der Geburt und wirkt fort bis zum Lebensende. Für die Schlechterverdienenden führt er statistisch gesehen zu einem früheren Tod.

Die Babys von Müttern aus der Unterschicht sterben demnach weitaus häufiger in den ersten Wochen ihres Lebens. Auch die Zahl der Frühgeburten ist in dieser Gruppe erhöht. In Städten des Ruhrgebiets mit hoher Arbeitslosigkeit, wie etwa Herne, liegt sie mit 92 Frühgeburten pro tausend Geburten deutlich über dem Landesdurchschnitt von 68,4. Entwicklungsstörungen wie Sprachdefizite und Beeinträchtigungen der Koordinationsfähigkeit treten bei Kindern und Jugendlichen aus materiell schlechter gestellten Haushalten ebenfalls öfter auf.

Während 22 Prozent der Kinder aus Haushalten mit geringem Einkommen über wiederkehrende Kopfschmerzen und 16 Prozent über wiederkehrende Rückenschmerzen klagen, tun dies bedeutend weniger Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Übergewicht stellen die Mediziner ebenfalls häufiger bei Kindern aus armen Elternhäusern fest. Diese Kinder neigen auch eher zum Zigarettenkonsum. 17 Prozent von ihnen rauchen. In der Gruppe der sozial privilegierten Elf- bis 15jährigen ist die Quote deutlich geringer.

Dazu passend, lehnt im Unterschied zu den Mittel- und Oberschichtskindern ein Großteil der Unterschichtskinder eine gesundheitsfördernde körperliche Betätigung ab. Und da »durch die allgemeine Verschärfung des sozialen Klimas« die Gewalttätigkeit zunehme, wie die Landesgesundheitskonferenz feststellte, müssten die Kinder und Jugendlichen der sozial Schwachen zudem viel öfter körperliche Misshandlungen erleiden.

Nur die mit Schadstoffen belastete Luft macht mit ihren gesundheitsschädlichen Folgen vor Schichtunterschieden nicht halt. Von der Herkunft unabhängig, erkrankt mittlerweile jedes fünfte Kind in Nordrhein-Westfalen an Allergien, Asthma oder Neurodermitis. »So nehmen gerade die Störungen zu, die in einem deutlichen Zusammenhang mit der ökologischen und sozialen Umwelt stehen«, heißt es in der Broschüre der Landesgesundheitskonferenz.

Im Erwachsenenalter zeigen sich bei den sozial Schwachen dann deutlich die Folgen der schlechteren gesundheitlichen Bedingungen. Sie haben im Durchschnitt viel häufiger Herz- und Kreislaufprobleme, Krebs und Knochenerkrankungen. Und unter Migranten sind die Gesundheitsprobleme in allen Bereichen noch stärker ausgeprägt. Die Anzahl der TBC-Kranken etwa liegt bei ihnen um das Vierfache über dem Durchschnitt.

Der Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer Schicht und der körperlichen Verfassung ist dabei kein unmittelbarer. Absolute Armut mit Begleiterscheinungen wie Mangelernährung und schlechten hygienischen Verhältnissen gibt es in den westlichen Industrieländern nur äußerst selten und gefährdet daher kaum mehr die Gesundheit. Die jeweilige Wohnsituation und die auf schichtspezifischen Erfahrungen beruhenden Lebenseinstellungen spielen eine größere Rolle.

Sozial benachteiligte Familien oder Alleinerziehende wohnen zumeist in dicht besiedelten Gebieten. Die Kinder finden dort nur selten Spielplätze oder Grünflächen vor. So sitzen sie oft mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher. Übergewicht und die Verkümmerung motorischer Fähigkeiten sind die Folge. Das hohe Verkehrsaufkommen in den Vierteln erhöht zudem die Unfallgefahr, und die Autoabgase und die Heizungsemissionen bereiten den Kindern Kopfschmerzen. Auch zwischen der Siedlungsdichte und der Verbreitung von Asthma bestehe dem Kinder- und Jugendbericht zufolge eine Beziehung.

Die hohe Rate der Säuglingssterblichkeit und der Frühgeburten führt er auf die weniger ausgeprägte Bereitschaft von Frauen aus der Unterschicht zurück, zu Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere zu gehen. Darin drückt sich eine schichttypische Lebenseinstellung aus. Einkommensschwache begreifen sich in stärkerem Maße als Objekte der Verhältnisse. Sie haben kaum die Erfahrung gemacht, durch persönliche Entscheidungen einen positiven Einfluss auf ihr Leben nehmen zu können.

Sie denken meist nicht in längeren Zeiträumen und betrachten ihren Körper nicht als ein Gut, das umsorgt werden muss, um Krankheiten vorzubeugen. Was kommt, das kommt. Angebote zur Früherkennung von Krankheiten werden seltener in Anspruch genommen.

Die Werbung für Präventionsuntersuchungen sei »mittelschichtsorientiert«, stellte die Landesgesundheitskonferenz selbstkritisch fest. Dem will Birgit Fischer mit »zielgruppen-spezifischen« Angeboten, die »niederschwellige Zugangsbedingungen« aufweisen, entgegenwirken. Darüber hinaus plant sie, Kindergärten und Schulen verstärkt in die Gesundheitsvorsorge einzubeziehen.

Aber das sind nur punktuelle Maßnahmen. Die rot-grüne Bundesregierung plant nicht mehr, als sie in einem Präventionsgesetz zusammenzufassen, obwohl der Koalitionsvertrag die präventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu einem Schwerpunkt erklärt. Zu einer effizienten Gesamtstrategie lassen sich die erforderlichen Maßnahmen allein schon wegen der knappen finanziellen Mittel nicht verbinden. Es fehlt aber nicht nur am Geld, sondern auch an der Einsicht, dass eine wirksame Sozialpolitik die beste Gesundheitspolitik ist.