Fern von Europa

Von einem eigenen Staat redet in Türkisch-Kurdistan niemand mehr. Aber von der Demokratie und von Europa.

Viele Jahre hat Osman Aktunç in Salzburg in einer Fabrik gearbeitet, seit zehn Jahren lebt er als Rentner in Ankara. »Aber meine Wurzeln sind in Diyarbakir«, sagt er. Auch deshalb ist er zur großen Abschlusskundgebung der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (Dehap) in die heimliche Hauptstadt der türkischen Kurden gekommen. Es ist der Freitag vor der Wahl. Die Redner verlangen eine kostenlose medizinische Versorgung, Arbeit und Brot. Die Menge ruft: »Tausend Grüße nach Imrali!« Der Adressat ist Abdullah Öcalan, der seit Anfang des Jahres 1999 auf jener Gefängnisinsel im Marmarameer in Einzelhaft sitzt.

Am selben Tag lässt Öcalan, dessen Autorität zumindest unter den Sympathisanten der Dehap ungebrochen scheint, von seinen Anwälten seine Wahlbotschaft verkünden. Die Stimmabgabe sei »eine heilige Pflicht«, meint der Vorsitzende der Kadek, der früheren PKK. Die Wahlen seien wichtig für den Frieden und die Demokratie in der Türkei, ja, im gesamten Nahen Osten.

Auch Aktunç meint: »Demokratie ist das Wichtigste. Wenn ein Land einen demokratischen Weg geht, bekommt es auch internationale Unterstützung. Wenn sich die Türkei demokratisiert, wird sie sich Schritt für Schritt der EU annähern, und umso schneller können wir den Beitritt schaffen. Unsere Hoffnungen liegen in Europa.«

Doch zunächst geht es um die Dehap. Was sich denn ändern würde, wenn es die Partei ins Parlament schaffen würde? »Einfach alles«, sagt ein junger Mann. »Wir hätten mehr Arbeitsmöglichkeiten und ein größeres Einkommen. Und natürlich kulturell, Theater, Kino und so. Bildung, das ist besonders für uns junge Leute wichtig. Wir könnten dann vielleicht studieren. Mit der Dehap würde auch die Aufnahme in die EU schneller gehen.« Große Hoffnungen werden auf eine kleine Regionalpartei gesetzt, die aber am Ende gar nicht in die Lage kommt, sie erfüllen zu müssen.

Wer den Menschen auf den Kundgebungen zuhört, gewinnt schnell den Eindruck, dass sich der weit verbreitete Enthusiasmus für die EU aus Naivität speist. Vor dem Argument, dass die mächtigen Staaten der EU kein Interesse an armen Flüchtlingen aus dem Osten der Türkei haben dürften, die als EU-Bürger das Recht hätten, sich in Europa niederzulassen, bricht ratloses Schweigen aus. »Deutschland ist schön«, sagt dann ein 17jähriger unsicher. Er war noch nie dort, hat aber gehört, dass der Staat eine Arbeitslosenhilfe zahle. Sich so etwas auszumalen, übertrifft die Vorstellungskraft der Runde um Osman Aktunç.

Je weiter es nach Osten zur irakischen Grenze geht, desto ferner rückt Europa, nicht nur geografisch. Hinter Sirnak, etwa 300 Kilometer östlich von Diyarbakir, verbindet nur noch eine holprige Straße die Ortschaften. Ab und zu gibt es ein Dorf, zehnköpfige Familien teilen sich ein Haus mit oft nicht mehr als zwei Zimmern, Wasserleitungen gibt es nicht, nur wenige Häuser haben Strom. Kinder in Gummischuhen tragen auf den staubigen Wegen ihre Kanister zur Wasserzapfstelle.

Der äußerste Osten der Türkei ist entsetzlich arm. Schätzungen gehen davon aus, dass in einigen Regionen der westlichen Türkei das Einkommen an 60 Prozent des EU-Durchschnitts reicht, während es in einigen der mehrheitlich von Kurden besiedelten Provinzen nur fünf bis acht Prozent sind. Noch immer herrschen Großgrundbesitzer wie Feudalherren über die Landbevölkerung, die medizinische Versorgung ist lausig.

Ab und zu tauchen in der Landschaft Siedlungen auf, sie sind quadratisch, militärisch angelegt, es gibt breite Straßen, moderne Häuser. Es sind Ersatzdörfer für Menschen, die im Verlauf des Krieges zwischen der Armee und der PKK geflohen sind. Die einzige Auflage für die Rückkehr lautet, sie müssen unterschreiben, dass ihre Dörfer von der PKK zerstört wurden und dass sie jedem Separatismus abschwören. Wer so etwas tut, läuft Gefahr, vor den eigenen Leuten als Verräter dazustehen. Nicht nur deshalb bleiben viele lieber in den Elendssiedlungen der Städte. Schließlich ziehen auch aus anderen Regionen des Landes Menschen in die Städte, weil ihnen die Landwirtschaft keine Zukunft mehr bietet.

Auch hier ist die soziale Frage das wichtigste Thema. Von Autonomie oder einem eigenen kurdischen Staat redet niemand mehr. Im Wahlprogramm der Dehap heißt es, dass sie sich »für die Einheit des Landes« einsetze und »die kurdische Frage auf friedlichem und demokratischen Wege« lösen wolle. Das sind nicht nur Lippenbekenntnisse, mit denen man einem Verbot entgehen will. Die meisten Menschen hier sind kriegsmüde, Frieden und Demokratie lauten die Wünsche.

Der Unterricht in kurdischer Sprache ist seit einigen Monaten gesetzlich erlaubt, trotzdem scheitert er an administrativen Beschränkungen. So dürfen nur Lehrer unterrichten, die eine Ausbildung in der Türkei absolviert haben, eine absurde Regel, war Kurdisch doch lange Zeit eine verbotene Sprache.

Außerdem ist es vor allem die Sprache der Frauen, die oft kein Wort Türkisch verstehen. Sechs Prozent der gesamten männlichen, aber 23 Prozent der weiblichen Bevölkerung des Landes über zwölf Jahren können nicht lesen. In Kurdistan ist der Anteil der Analphabetinnen noch wesentlich höher.

Die Frauen im Dorf Ceman erzählen, dass sie nicht zur Wahl gegangen seien. Ihre Männer hätten problemlos für sie abstimmen können, sie hätten sowieso wählen müssen, was der Aga, der Großgrundbesitzer, wollte. Noch vor einigen Jahren waren auch die Großgrundbesitzer in zwei Lager gespalten; es gab die staatsloyalen, die die Dorfschützermilizen stellten, und die mit der PKK sympathisierenden. Deshalb wurden vor allem jene Dörfer von der türkischen Armee geräumt, wo die Bevölkerung oder auch der Großgrundbesitzer im Verdacht standen, die kurdische Guerilla zu unterstützen.

Ceman ist jedenfalls nicht das einzige Dorf in der Provinz, wo der Aga oder die Sicherheitskräfte dafür sorgten, dass die Leute ihr Kreuz nicht an der falschen Stelle machten. Nach Angaben der Dehap sollen mehrere tausend gemeldete Wähler in den kurdischen Provinzen trotz Protesten bei den Behörden keine Wahlunterlagen erhalten haben.

Dennoch gelang es der Partei, zur stärksten Kraft in der Provinz Sirnak zu werden, ebenso wie in 13 weiteren östlichen Provinzen. Dass sie mit insgesamt 6,1 Prozent, knapp zwei Millionen Stimmen, an der Zehnprozenthürde scheiterte, liegt aber nicht an örtlichen Behinderungen. Wie schon ihren Vorgängerinnen gelang es ihr nicht, das Potenzial in den westtürkischen Großstädten auszuschöpfen, wo inzwischen wohl mehr Kurden leben als in der Provinz. Zumindest eine Hälfte Istanbuls liegt ja in Europa.