Vor dem Gipfeltreffen der Nato in Prag

Die Familie will sie alle

Die Nato will auf ihrem Gipfeltreffen in Prag die größte Erweiterung in ihrer Geschichte beschließen.

Seit drei Jahren ist Tschechien ein Mitglied der Nato, doch seinen Soldaten und ihren Fähigkeiten scheinen die USA noch nicht so recht zu trauen. Die US-Streitkräfte werden deshalb die Überwachung des tschechischen Luftraumes übernehmen, wenn sich die 19 Mitglieder der Nato und ihre Gäste am Donnerstag und Freitag dieser Woche erstmals in einem ehemaligen Mitgliedsland des Warschauer Paktes zu einer Gipfelkonferenz zusammenfinden. Schließlich wird auch der US-Präsident George W. Bush erwartet. Noch bevor das Parlament in Prag den dafür »nötigen gesetzlichen Rahmen« schaffen konnte, übten einheimische und US-Kampfflugzeuge bereits Mitte Oktober die lückenlose Überwachung des Luftraumes in einem Manöver.

Einigen unliebsamen Gästen wurde allerdings auf konventionellem Wege der Zugang nach Prag verwehrt. Obwohl die Ost-Erweiterung eines der zentralen Themen des Gipfels sein wird, sind zwei Vertreter aus dem Osten schlicht unerwünscht. Aus Brüssel und Washington war der tschechischen Regierung bedeutet worden, dass man den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko in Prag nicht zu sehen wünsche. Wegen der »Missachtung der Menschenrechte« erhalte er kein Visum, erklärte dann auch der Außenminister Cyril Svoboda am vergangenen Freitag. Zuvor hatte die Nato nach Angaben des tschechischen Vizepremiers Pavel Rychetsky noch geraten, den Fall »diplomatisch« zu lösen, wie Radio Prag berichtete. Doch daraus wurde nichts.

Die Ausladung könnte noch für Ärger sorgen, immerhin ist Weißrussland am Nato-Programm »Partnerschaft für den Frieden« beteiligt, dessen Teilnehmer sich am Rande des Gipfels treffen. Die Regierung in Minsk reagierte höchst empört und rief umgehend ihren Botschafter aus Prag zurück. Lukaschenko hatte zuvor mit »härtesten Gegenmaßnahmen« gedroht, sollte er kein Visum erhalten. Weißrussland könne die Kontrolle seiner Westgrenze vernachlässigen und illegalen Einwanderern und Drogenhändlern die Reise nach Westeuropa ermöglichen.

Auch der ukrainische Präsident Leonid Kutschma steht auf dem Index. Ihn beschuldigen die USA, das Radarsystem Koltschuga vor Jahren für 100 Millionen Dollar an den Irak verkauft zu haben. Kutschma ist an einer Mitgliedschaft in der Nato durchaus interessiert, seit Monaten bemüht sich die Ukraine um den Status eines Beitrittskandidaten. »Wenn wir Partner sind, sollten wir die Dinge direkt besprechen«, begründete Kutschma seine Absicht, trotzdem nach Prag zu reisen.

Doch auch ohne die Teilnahme dieser beiden Staaten will die Nato ihre Expansion nach Osten beim Prager Gipfel fortsetzen. Über die Aufnahme der drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland sowie Sloweniens sind sich die 19 Mitglieder seit langem einig. Rumänien, Bulgarien und die Slowakei galten über eine lange Zeit als wacklige Kandidaten, sie können aber wahrscheinlich ebenfalls mit einer positiven Entscheidung rechnen. Interessiert zeigten sich auch Mazedonien und Albanien, die instabilen politischen Verhältnisse und die gerade überwundenen militärischen Konflikte halten das Interesse der Nato an diesen und anderen Kandidaten aber noch sehr in Grenzen.

Die Allianz will den Schwerpunkt des ganzen Bündnisses in den nächsten Jahren weit nach Osten verschieben. Der Nato-Botschafter der USA, Nicholas Burns, betont, dass irgendwann auch die Staaten der ehemaligen Sowjetunion am Kaukasus und in Zentralasien eng an die Nato gebunden werden könnten. Von Georgien bis Usbekistan, sagte Burns, sollten alle zur »Familie gehören«.

Russland, das ausdrücklich nicht in die Nato aufgenommen werden soll, wäre damit militärisch eingekreist. Moskau pocht deshalb darauf, dass die drei baltischen Staaten mit ihrem Eintritt in die Nato auch dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) beitreten müssen. In diesem Vertragswerk aus den Zeiten des Kalten Krieges wird die Zahl von Schiffen, Panzern und Kampfjets begrenzt. Andernfalls, so mutmaßt man im Kreml, könnte die Nato an der Ostsee im Falle eines Falles unbegrenzt Waffen und Soldaten stationieren.

Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich Anfang November mit dem Nato-Generalsekretär George Robertson traf, beurteilt die erneute Ost-Erweiterung optimistischer, schließlich komme es ja zu einer »demokratischen Einheit Europas vom Baltikum bis zum Balkan«.

Zu den Neuigkeiten, die die USA in Prag beschließen will, gehört auch eine 21 000 Mann starke Nato Response Force, eine elitäre Eingreiftruppe aus US-Amerikanern, Kanadiern und Europäern, die vor allem gegen »Terroristen« und »Schurkenstaaten« eingesetzt werden soll.

Der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte bereits auf einem Treffen in Warschau Ende September kräftig für das Projekt geworben, das den Nato-Kollegen auf dürftigen dreieinhalb Seiten präsentiert wurde. Zu lange hatten sich die USA über die militärtechnologisch weit abgeschlagenen Partner geärgert, die in den neuen Kriegen der USA oft nur als Hilfstruppen zu gebrauchen waren. Aufforderungen zur Modernisierung der Armeen wurden regelmäßig ignoriert.

Das Geld für diese kleine Truppe ist leichter zu beschaffen. Die neue Elitetruppe soll nur fünf bis 30 Tage brauchen, um für Kampfeinsätze in alle Regionen der Welt verlegt werden zu können. Der Heeresanteil soll die Brigadestärke erreichen, die Luftstreitkräfte sollen 200 Angriffseinsätze pro Tag fliegen können, ein dazugehöriger Marineverband soll aus einem Dutzend Schiffen bestehen. Der ganze Verband unterstünde einem neu gebildeten Alliierten Streitkräftekommando und soll einen Monat ohne Unterstützung kämpfen können. Bis zum Oktober des Jahres 2006, so der Plan der USA, müsste die Truppe, die allen »vorstellbaren Bedrohungen technisch überlegen« sein soll, einsatzbereit sein.

Damit zeigt sich eine strategische Wendung zu völkerrechtlich bislang nicht legitimierten Präventivkriegen weit außerhalb des traditionellen Einsatzgebietes, die die USA Schritt für Schritt in der Allianz vorantreiben will. Vorbehalte, auch in Deutschland, wurden überraschend schnell beiseite geschoben. So reagierte der Verteidigungsminister Peter Struck auf den Vorschlag anfangs reserviert und fand ihn lediglich »interessant«. Bundeskanzler Schröder bezeichnete die Idee nach den Gesprächen mit Robertson dann schon als »prinzipiell richtig und zielführend«.

Der Außenminister Joseph Fischer verteidigte schließlich in der vergangenen Woche in einer Regierungserklärung die US-Vorschläge grundsätzlich. Angesichts der neuen terroristischen Bedrohung müsse ein neuer umfassender Sicherheitsbegriff entwickelt werden. Allerdings formulierte er noch einige Bedingungen zum Einsatz der Eingreiftruppe. Der Nato-Rat solle darüber entscheiden, eine deutsche Beteiligung stehe unter dem Vorbehalt der Zustimmung im Bundestag und schließlich müsse die 21 000 Mann zählende Truppe auch mit den im Aufbau befindlichen 60 000 Mann starken Krisenreaktionskräften der EU vereinbar sein.

Kritiker meinen, dass die USA mit ihrem Vorschlag den Start der EU-Einsatztruppe im Jahr 2003 torpedieren wollen, um allzu große Alleingänge der Europäer zu verhindern. Konflikte zwischen der Union und der Nato sind programmiert, denn beide Elitetruppen greifen bei Einsätzen auf Einheiten der verschiedenen nationalen Armeen zurück. Und die Zahl der Soldaten mit einer Spezialausbildung ist überall begrenzt. In der Bundeswehr sind es derzeit nur die 1 000 Mann des Kommandos Spezialkräfte und einige Fallschirmjägerkompanien, die dafür in Frage kämen.