Ein Jahr nach dem Sturz der Taliban

Die Schule der Nation

Trotz islamistischer Anschläge kann die afghanische Regierung ihren Einflussbereich erweitern. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt sie.

Offizielle Feierlichkeiten gab es in Kabul, abgesehen von einer kleinen Zeremonie im Innenministerium, nicht, als sich am Mittwoch der vergangenen Woche die Befreiung von der Herrschaft der Taliban zum ersten Mal jährte. In den Tagen zuvor wurden bei Protesten von Studenten gegen die schlechten Lebensbedingugen vier Menschen erschossen. Aus anderen Teilen des Landes werden fast täglich Anschläge auf US-amerikanische Soldaten und westliche Einrichtungen gemeldet. Außerdem findet die US-Armee immer wieder automatische Raketenabschussanlagen und Waffenlager, oder sie nimmt Frauen fest, die Sturmgewehre unter ihrer Burka transportieren.

Afghanistan ist das klassische Beispiel eines »fehlgeschlagenen Staates«, gehört also zu jenen Gebilden wie Somalia, die nicht über eine feste und einheitliche staatliche Ordnung verfügen, sondern in mehrere von Warlords beherrschte Provinzen zerfallen sind. Wie man es vor allem in Afrika oft gesehen hat, kann der Prozess des staatlichen Zerfalls sehr schnell gehen. Eine Umkehrung jedoch ist fast immer eine äußerst aufwendige, langwierige und selbst mit der Hilfe von außen oft genug eine wenig Erfolg versprechende Angelegenheit.

Die Meldungen aus Afghanistan vermitteln den Eindruck, der Prozess des nation building stehe vor dem Scheitern. Sie geben jedoch nicht die tatsächliche Entwicklung wieder. Das Land befindet sich auf dem Weg zurück zur staatlichen Normalität, allerdings ist der Prozess noch in den Anfängen und bisher alles andere als unumkehrbar.

So haben die islamistischen Anschläge keinen sichtbaren Einfluss auf das tägliche Leben in Afghanistan. Man kann wieder unbehelligt durch das Land reisen, ohne sein Leben zu riskieren. Die US-amerikanischen Soldaten sind auch bei der Bevölkerung nicht so unbeliebt, wie es viele Journalisten im Juli, nach der Bombardierung einer Hochzeitsfeier in der Provinz Uruzgan, bei der über 40 Menschen umkamen, beobachtet haben wollen. Im Norden des Landes sind ohnehin nur wenige stationiert, und die politischen Führer dieser Region besitzen nach der Vertreibung der Taliban aus Kabul wieder einen großen politischen Einfluss.

Doch auch die Mehrheit der Bevölkerung in den ehemaligen Hochburgen der Taliban im Süden sieht die neuen Verhältnisse offenbar als Fortschritt. Ein Opiumbauer in der als äußerst traditionell geltenden Provinz Helmand, dessen Ernte vor ein paar Monaten von der Regierung vernichtet wurde, sagte zum Beispiel: »Es ist gut, dass die Amerikaner hier sind. Sie haben die Taliban vertrieben, und sie sorgen dafür, dass sich die afghanischen Fraktionen untereinander nicht in die Haare kriegen.« Im Süden heißt es fast überall, wegen des Eingreifens der USA bestehe zum ersten Mal seit langem eine realistische Chance, den Bürgerkrieg und den staatlichen Zerfall zu beenden.

Das ist der Unterschied zu den zehn Jahren der Herrschaft der Warlords. Der ehemalige Ministerpräsident und heutige Fundamentalistenführer Gulbudin Hekmatyar will den Krieg fortführen, um alles Westliche aus Afghanistan zu vertreiben. Er kämpft schon seit mehr als 20 Jahren in Afghanistan und hat sich nun offenbar mit den Resten der al-Qaida und der Taliban zusammengeschlossen.

Doch anders als nach der sowjetischen Invasion im Jahr 1979, als die Mujahedin fast von der gesamten Bevölkerung unterstützt wurden, folgt heute nur eine Minderheit den Islamisten. So sind die Brand- und Bombenanschläge auf Mädchenschulen, die es in den letzten Wochen in allen Landesteilen gab, wohl nur Rückzugsgefechte. Überall gehören Gruppen von Schülerinnen in schwarz-weißen Schuluniformen wieder zum täglichen Straßenbild. Und daran werden auch die Anschläge nichts mehr ändern können.

Die dringendste Aufgabe der vom Präsidenten Hamid Karzai geführten afghanischen Regierung ist es, die übrig gebliebenen Warlords in Bedrängnis zu halten. Auch dazu diente die Einführung des neuen Afghani Anfang Oktober. Nach der Währungsreform können die Kriegsfürsten nicht mehr ihr eigenes Geld drucken, und es ist erstmals seit langem wieder die Regierung, die die Entscheidungsgewalt über die Geldpolitik hat. Das ändert allerdings noch nichts daran, dass die Regierung äußerst schwach bleibt, denn sie hat keine Steuereinnahmen.

Die regionalen Machthaber schicken so gut wie nichts von den Zolleinkünften, und die Zentralregierung ist deshalb auf die Hilfe des Auslands angewiesen. Im Augenblick ist Ismael Khan im westlichen Herat, nahe der iranischen Grenze, der gefährlichste Gegner. Er hat das Amt des Vizepräsidenten in Karzais Kabinett abgelehnt und lebt sehr gut von den Zolleinnahmen an der wichtigen Route in den Iran. Im Oktober ließ er der Zentralregierung 4,5 Millionen US-Dollar zukommen, was wohl eher als eine Geste der Arroganz als ein Beitrag zum afghanischen Budget verstanden werden muss.

Aber schon bald dürfte die Regierung sich als stärker als die Warlords erweisen. Wenn die Geberländer ihre Zusagen einhalten und nicht das gesamte Geld in dunklen Kanälen in Kabul verschwindet, wird die Zentralregierung die höheren Einnahmen haben. Und wenn das Training einer nationalen Armee und Polizei fortschreitet, gewinnt Karzai auch die nötigen Mittel, um die Warlords von der Macht verdrängen zu können.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Normalisierung Afghanistans. Denn die meisten Historiker sind sich einig, dass die Ursachen des afghanischen Bürgerkrieges und des staatlichen Zerfalls darin liegen, dass alle Versuche, ein modernes säkulares Staatswesen zu schaffen, scheiterten. Als Ende der zwanziger Jahre König Amanullah eine Öffnung gen Westen versuchte, wurde er durch einen Aufstand der Stämme gestürzt. Als die kommunistische Regierung nach dem Staatsstreich von 1978 daran ging, ein ambitioniertes Programm mit einer antifeudalen Landreform, einer Alphabetisierungskampagne und der Schulpflicht für Frauen in die Tat umzusetzen, kam es in vielen Regionen Afghanistans zu spontanen Aufständen.

Aber daran, dass Karzais Regierung Afghanistan entschlossen modernisieren wird, darf man zweifeln. Bis auf wenige Technokraten, die nach der Flucht vor dem Bürgerkrieg wieder zurückgekehrt sind, sitzen in dieser Regierung von der höchsten bis zur niedrigsten Ebene nur ehemalige Mujahedin. Aus dem Islamischen Emirat Afghanistan der Taliban wurde nach der Loya Jirga im Juni offiziell der Islamische Übergangsstaat Afghanistan. Das Ministerium für die Ausrottung des Lasters und die Durchsetzung der Tugend, das unter den Taliban die islamistischen Gebote durchsetzte, besteht unter anderem Namen weiter.

Die konservative Fraktion im Kommunikationsministerium erreichte vor zwei Monaten, dass im Kabuler Fernsehen keine Sängerinnen mehr auftreten dürfen. In den Gefängnissen sitzen nach wie vor viele Frauen, die sich nichts anderes zu Schulden kommen ließen, als sich gegen die von ihren Eltern arrangierte Hochzeit zu wehren. Oft genug sollten sie mit einem Partner vermählt werden, den sie noch nie gesehen haben. Und nach Angaben der Regierung muss der Opiumanbau in Afghanistan aufhören, weil er gegen die Regeln des Islam verstößt, und nicht wegen der sozialen Folgen.