Frank Castorf »Der Meister und Margarita«

Glaube das Unglaubliche!

Frank Castorf inszeniert Bulgakovs »Der Meister und Margarita« an der Berliner Volksbühne.

Stalin bezeichnete Schriftsteller als »Architekten der menschlichen Seele«. George W. Bush macht seit dem 11. September des vergangenen Jahres das Böse innerhalb einer geografischen Achse aus, die zum Schutz der westlichen Zivilisation zerstört werden muss. Was hat Stalins Aussage mit Bushs Feldzug zu tun? Eine Antwort darauf will Frank Castorfs neues Theaterstück, eine Adaption des Romans »Der Meister und Margarita« von Michail Bulgakov, liefern. In Berlin war in der vergangenen Woche die Premiere.

»Mein Beruf? Spezialist!« schreit Voland (Henry Hübchen), alias der Teufel, den staunenden russischen Literaten entgegen und wirft ihnen seine gefälschten Ausweispapiere vor die Füße, um sich vorzustellen. Er tanzt uns »Sympathy for the devil« von den Rolling Stones vor, während über seinem Haupt auf der Leinwand eine schwarze und possierliche Comicmieze erscheint, die ein wenig wie ein freundlicher Heiligenschein über seinem Haupt wirkt.

Eins wird gleich klar, es geht um die Frage, was ist überhaupt das Gute, was das Böse? Carl Hegemann, Dramaturg an der Volksbühne, meint zur Wahl seines neuen Stoffes: »Die meisten Menschen wollen nichts wissen von Realitäten, in denen alles möglich ist, und gucken sich die Auflösung ihrer Realität lieber im Fernsehen an. Zuhause aber bleibt alles, wie es ist. Anders bei Bulgakov.«

Dieser war seit seinem Berufswechsel vom Arzt zum Schriftsteller dem ewigen Verdacht des Verrats an der Revolution in Russland ausgesetzt. Sein wohl bedeutendstes und gleichzeitig letztes Werk, »Der Meister und Margarita«, wird häufig als Parabel auf den Stalinismus und als späte Rache des Schriftstellers an einer Ordnung gelesen, die die Freiheit des Denkens in Repressionen erstickte. In seinem berühmten Brief an Stalin vom März 1930 schreibt Bulgakov verzweifelt: »Es gibt viele Gründe, warum die Revolution in meinen Stücken nicht verspottet wird. Aus Platzgründen will ich hier nur einen nennen: Angesichts der Größe der Revolution ist es vollkommen unmöglich, daraus Spottverse zu machen.«

Da unter dem Stalinismus der Klassenfeind überall droht und vor allem vor den eigenen Gedanken nicht Halt macht, kommt es zu eklatanten Wahrnehmungsverschiebungen. Die Gleichzeitigkeit von Revolution und Verrat, von Realität und Verfolgungswahn, von Angst und Scherz spiegelt sich in der Doppelbödigkeit von »Der Meister und Margarita«.

Da ist der Meister, ein Schriftsteller, der sich nach vielen Demütigungen freiwillig zum Verrückten erklärt und sich in der Klinik des Doktor Stravinsky häuslich niederlässt. Des Meisters von der Zensur geächtetes Werk über Pontius Pilatus prägt fortan das Moskauer Geschehen. Voland taucht auf und stürzt die Stadt in Wahnsinn und Depression, zwingt ihr aber auch den Glauben an das Unglaubliche auf. Menschen und Papiere verschwinden und fliegen durch die Luft, Köpfe werden abgerissen und Choräle gesungen, kurz: Es entsteht ein wildes Treiben, das früher oder später dazu führt, dass Doktor Stravinsky viel zu tun hat. Die Realität löst sich auf und mit ihr verschwindet der Vorwurf der Sabotage.

Margarita, des Schriftstellers Geliebte, lässt sich ins Gefolge des Teufels aufnehmen, um mittels Magie und Hexerei wieder zu ihrem Geliebten zu kommen und um nebenbei Rache an den Peinigern des Meisters, einer Art stalinistische Zensurmafia, zu üben. Irgendwann geht es hoch her. Der Baron Maigel, ein Spitzel, wird am Ende eines Balls beim Satan erstochen und Margarita, die Ballkönigin, trinkt sein Blut. Zusammen mit dem Meister wird sie zur lebenden Toten und fliegt mit ihren dämonischen Gönnern davon.

Castorfs Inszenierung von »Der Meister und Margarita« wird mit der Leuchtschrift »I want to believe« eröffnet. Auch hier tut sich bereits ein doppelter Boden auf. Bei Bulgakov geht es um den Willen, an den Staatssozialismus zu glauben. Heute, in Zeiten der vorerst zerstörten Hoffnung auf ein Ende des Kapitalismus, schreit uns die Heraufbeschwörung der »Axe of the Evil« als modernes Glaubensbekenntnis zynisch entgegen.

Die Auflösung der Realität, die im Roman angelegt ist, wird vom wirkungsvollen Wechselspiel zwischen Bühne und Film unterstützt. Neben den Showeinlagen, die nur im Film möglich sind, wie etwa Margaritas Zerstörungsflug über Moskau, sehen wir auf der Leinwand die Pilatusszenen, das Innere von Stravinskys Klinik und des Teufels Küche.

Castorf lässt seinen Satan recht gemütlich wirken, während Wasser- und Lehmschlachten unser Mitleid mit den Schauspielern hervorrufen. Gesoffen wird sowieso und wenn's sonst nichts gibt, dann eben »puren Sprit« oder Aprikosenbrause. Allerdings fehlt ein wenig der Witz und die Leichtigkeit Bulgakovs auf der Bühne. Insbesondere die Darstellung des depressiven Wahns beim Meister und seiner Margarita wirkt zäh. Die Variété-Vorführung bietet immerhin eine Pupskanone und Sir Henry setzt uns den schönsten Schlamassel vor. Doch lustig wird es erst, als Lichodejew (Bernhard Schütz) seinen Kopf verliert. Die hysterischen Anfälle des Meisters werden aber durch lautes Gekreische auch nicht eindrucksvoller.

Ziemlich gelungen wird die Entgrenzung des Doktor Stravinsky (auch Bernhard Schütz) vermittelt, der, bloß noch bekleidet mit einer schlabbrigen Unterhose, seinem Patienten Besdomny (Milan Peschel) die Diagnose stellt. »Sind Sie normal?«, fragt er ihn, und Besdomnys Augenrollen ist ein Vorbote für das spätere Durchknallen des Doktors. Während ein brodelndes Gebräu vom Teufel nebst Gefolge gereicht wird, schielt dieser schon mal prophylaktisch und steht plötzlich inmitten einer Wildwest-Montage. »Wo bin ich hier? Was ist das für ein Land?«, fragt der Entrückte.

Plötzlich tauchen schwarze Kämpfer auf und jagen mit Buschpfeilen das hässliche weiße Menschlein. Die Rückeroberung eines subversiven Terrains findet ihren Höhepunkt im Freeclimbing der Geheimdienstagenten Pilatus und Afranius auf der Hochhauskulisse und im Hexentanz um das brennende Capitol. Es ist das Böse, das sich der Symbolik des Guten bemächtigt hat.

»Der Meister und Margarita«. R.: Frank Castorf. D.: Henry Hübchen, Kathrin Angerer, Bernhard Schütz, Milan Peschel u.a. Weitere Termine: 22., 23. und 30. November in der Berliner Volksbühne