Eine resolute Familie

In Haiti häufen sich die Demonstrationen für und gegen den Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide. Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten.

Derzeit ist es eine gefährliche Sache, in Haiti als Journalist arbeiten zu wollen. Mehrere Mitglieder der Redaktion des unabhängigen Senders Radio Metropole haben inzwischen aus Angst das Land verlassen. Fast täglich gingen Drohanrufe beim Sender ein, berichtet der Leiter des Nachrichtenressorts, Rotchild Françoise. Auf Demonstrationen würden Reporter immer wieder von Anhängern der Familie Lavalas (Fanmi Lavalas), der Organisation des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, beschimpft und nicht selten körperlich bedroht. Und Radio Metropole ist kein Einzelfall.

Nach Gonaïves, der Hochburg der so genannten armée cannibale, trauen sich nur noch wenige einheimische Journalisten. Die Kannibalenarmee versetzt seit Monaten die Stadt in Angst und Schrecken. Seit die der Familie Lavalas nahe stehende Volksorganisation ihren Anführer Amiot Métayer Anfang August aus dem Gefängnis befreite, wo er wegen Gewalttätigkeiten gegen Oppositionsmitglieder einsaß (Jungle World, 34/02), hält sich der »Kubaner«, wie er genannt wird, mit seinen Gefolgsleuten im Stadtviertel Raboteau verschanzt.

Manchmal fordert er den Rücktritt des Staatspräsidenten Aristide, für den er einst gekämpft hat. Dann wieder geht er gegen Mitglieder der Opposition vor, mal mit einem Stein-, dann mit einem Kugelhagel. Vor zehn Tagen wollten sieben Rundfunkreporter über die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen und -freundlichen Demonstranten in Gonaïves berichten. Nur mit Mühe konnten sie sich vor dem wild gewordenen Mob Métayers retten.

Am 3. Dezember jährte sich die Ermordung des Journalisten Brignol Lindor. Der Rundfunkreporter und Nachrichtenchef von Radio Echo 2000 wurde in Petit-Goâve, 68 Kilometer südöstlich der haitianischen Hauptstadt gelegen, Augenzeuge, als Mitglieder der Convergence Demócratique von Angehörigen der dem Präsidenten nahe stehenden Organisation Domi nan Bwa bedroht wurden. Diese »Wächter des Waldes« griffen ihn daraufhin an. Seine Mörder sind nach Angaben der haitianischen Journalistenvereinigung zwar bekannt. Aber die Justiz unternehme nichts, um sie vor Gericht zu stellen, klagte der Generalsekretär der Vereinigung im privaten Fernsehsender Tele Haiti.

Lindor ist nicht der einzige Journalist, der in den letzten Jahren ermordet wurde und dessen Mörder noch immer nicht hinter Gittern sitzen. Nach wie vor ungeklärt ist der Fall des Rundfunkjournalisten Jean Dominique. Der Direktor von Haïti Inter wurde am 3. April des Jahres 2000 vor dem Gebäude des Rundfunksenders zusammen mit einem Wachmann erschossen. Fast wöchentlich kommen bei Demonstrationen im Land Menschen ums Leben.

Am Dienstag der vergangenen Woche wollte die feministische Organisation Fanm Soleil Leve (Frauensonnenaufgang) eine Gedenkdemonstration für Brignol Lindor vor dem Parlamentsgebäude abhalten. Als die Mitglieder verschiedener Oppositionsgruppen dem Aufruf folgten, wurden sie von einigen hundert Anhängern der regierenden Fanmi Lavalas mit Reitgerten und dünnen Holzpeitschen auseinandergetrieben.

Später sangen und tanzten etwa 2 000 Anhänger Aristides auf dem Platz. Begleitet von Rara-Musik und Sprechgesang, protestierten sie in Sichtweite der US-amerikanischen Botschaft gegen die ausländische Einmischung und für den von ihnen »Titid« genannten Staatspräsidenten. »Wir sind Demokraten«, tönten die Sprechchöre. Es war eine fröhliche Feststimmung, die plötzlich umschlug. Als sich zwei mit schwarzen T-Shirts bekleidete junge Mitglieder der Opposition provozierend auf den Platz wagten, flogen Steine. »Wenn sie Bürgerkrieg wollen, wir sterben für Aristide«, schrie ein junger Mann in Machopose.

Die Mehrheit der vor allem jugendlichen Anhänger der Familie Lavalas kommt aus den Elendsvierteln, die sich überall in und um Port-au-Prince finden lassen. Als der inzwischen exkommunizierte Armenpriester Aristide vor zwölf Jahren zum ersten Mal ins Präsidentenamt gewählt wurde, fanden sie in ihm einen Vertreter, der in ihrer Sprache, dem Creol, spricht und ihre Probleme kennt. »Frieden im Geiste und im Magen« versprach die Kampagne der Familie Lavalas den Armen Haitis.

Deren Lebenssituation hat sich jedoch seither noch verschlechtert. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich mittlerweile verdoppelt und verdreifacht. Um jeden Tag wenigstens einmal Reis und Bohnen ohne Fleisch auf dem Tisch zu haben, gibt eine Familie bereits fast 15 Euro aus. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haitianers beträgt rund 20 Euro. Fast 70 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Ohne die Überweisungen der im Ausland lebenden Verwandten in Höhe von rund 600 Millionen Euro pro Jahr könnten im Armenhaus Lateinamerikas die Menschen nicht mehr überleben. Etwa 1,5 Millionen Haitianer sind inzwischen emigriert.

Auch die Staatskasse ist leer. Das Land ist dringend auf internationale Hilfsgelder und Kredite der Weltbank angewiesen, um Reformen zu finanzieren. Aber das Geld, rund 500 Millionen US-Dollar sowie mehrere hundert Millionen Euro der Europäischen Union, sind seit den Präsidentschaftswahlen im November des Jahres 2000 gesperrt. Damals stellte sich Aristide zum zweiten Mal der Wahl zum Staatspräsidenten. Die 15 in der Convergence Demócratique zusammengeschlossenen Oppositionsparteien boykottierten die Wahl, weil bei der Senatswahl wenige Monate zuvor Kandidaten der Opposition bedroht wurden. Aristide gewann ohne Gegenkandidaten mit 91,7 Prozent.

Seither fordert die Convergence seinen Rücktritt, und seither befindet sich Aristide unter Druck. Seine Partei, nach wie vor die stärkste politische Kraft des Landes, würde einen Präsidentensturz vermutlich mit einer Welle von militanten Demonstrationen beantworten. Ohne Aristides Rücktritt will die Convergence Demócratique jedoch keinen Vorschlag zur Bewältigung der politischen Krise akzeptieren. Und ohne eine Beteiligung der Opposition an einem provisorischen Wahlrat, der vorgezogene Parlamentswahlen im kommenden Jahr vorbereiten soll, will die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nicht die Freigabe der internationalen Hilfsgelder und Kredite befürworten. »Wir sind am Rande eines Bürgerkrieges«, sagt selbst der zu Familie Lavalas gehörende Ministerpräsident Yves Neptune.

Dabei ist die Opposition schwach. Einem Aufruf des Unternehmerverbandes zu einem Generalstreik folgten nur die Inhaber der Geschäfte, in denen sowieso die haitianische Mittelschicht und die Begüterten des Landes einkaufen. Die Beteiligung von 50 000 Menschen an einem Protestmarsch gegen Aristide Mitte November in Cap Haïtien überraschte selbst die Führer der Oppositionsparteien.

So rätseln derzeit die noch in Port-au-Prince anwesenden Diplomaten und Vertreter internationaler Hilfsorganisationen über die Zukunft des Landes und über einen ihnen genehmen Nachfolger für Aristide. Angesichts der »Fragmentierung und Schwäche der haitianischen Gesellschaft schwinden die Möglichkeiten, die Probleme friedlich und demokratisch zu lösen«, sagte der Sonderbeauftragte der OAS für Haiti, Luigi Einaudi.

Während es die US-Botschaft in Santo Domingo noch dementiert, bestätigte der dominikanische Staatspräsident Hipólito Mejía, dass im kommenden Jahr 8 000 US-Soldaten vorübergehend an der Grenze zum Nachbarland Haiti stationiert werden sollen.