Die AKP als Regierungspartei

Glücklose Gewinner

Was ist das für eine Partei, die nun die Türkei regiert? Ist der Wahlsieg eine historische Zäsur? Kommt jetzt die Sharia oder die Demokratisierung des Landes?

Der Erfolg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wird mit anderen historischen Wahlen der türkischen Geschichte verglichen. Zum Beispiel mit der Zäsur von 1950, als erstmals eine vom Establishment skeptisch betrachtete Vereinigung, die Demokratische Partei, die alleinige Regierungsmacht übernahm. Oder mit dem Triumph von Turgut Özals konservativer Mutterlandspartei (Anap) im Jahr 1983, die, ähnlich wie die AKP heute, eine liberal-konservative Werteordnung sowie allgemeinen Wohlstand und ein bisschen Freiheit versprach. Und schließlich mit den Wahlen von 1995, bei denen die islamistische Wohlfahrtspartei (RP) zwar nicht die absolute Mehrheit erreichte, aber zur stärksten Partei wurde.

Als wichtigste Parallele zu den fünfziger Jahren erscheint, dass es einer marginalisierten gesellschaftlichen Kraft gelang, die politische Mitte zu erobern. Und so wie einst die Anap errang die AKP gegen den Willen des Militärs die Regierungsmacht.

Aber gerade im Verhältnis zu den Generälen werden auch die Unterschiede zu den historischen Vorbildern deutlich. So ist der Vorsitzende der AKP, Recep Tayyip Erdogan, aus Sicht des Regimes im Vergleich zum damaligen Wahlsieger Özal zwielichtiger und schwerer belastet. Insbesondere war jedoch die politische Bevormundung, die vom Militär und den übrigen Teilen des Establishments in den achtziger Jahren ausgeübt wurde, nicht so deutlich wie heute. In den vergangenen 20 Jahren hat sich dieser autoritäre Einfluss nicht nur institutionell und technisch gefestigt, er hat sich auch verfeinert.

Die politischen Handlungsmöglichkeiten wurden zudem durch zwei weitere Ereignisse eingeschränkt. In den neunziger Jahren befand sich das Land in der Folge des Krieges in Kurdistan im Ausnahmezustand. Auch die Intervention des Militärs im Februar des Jahres 1997, als der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan aus seinem Amt gedrängt wurde, hinterließ Spuren.

Angesichts dieser Einschränkungen erscheint es kaum vorstellbar, dass die AKP ihre vagen Versprechen auf ein bisschen mehr Freiheit realisieren kann. Hinzu kommt die internationale ökonomische und politische Krise, von der die Türkei im besonderen Maße betroffen ist. Deswegen dürfte es auch schwer fallen, das Land zu entwickeln und den Lebensstandard zu heben. Die AKP muss sich mit einer Armut auseinandersetzen, die eine riesige Dimension erreicht hat.

Trübe Stimmung

Der Wahlerfolg der Wohlfahrtspartei löste 1995 in kemalistisch-laizistischen Kreisen eine tiefe Verstimmung aus. Das wiederholt sich heute, wenngleich in einer gedämpften Form. Der zukünftige Lebensstil im Land, die Frage also, ob Frauen künftig den Schleier tragen müssen und Alkohol verboten wird, ist zwar ein Anlass für Späße, aber kein Grund für ernsthafte Sorgen. Vielleicht wirkt die Erfahrung beruhigend, dass die Armee 1997 gegen Erbakan vorging und seitdem den Eindruck vermittelt, etwas Ähnliches notfalls wieder zu tun. Vielleicht wird die AKP nicht als islamistische Partei betrachtet, sondern als eine Partei der Mitte. Wahrscheinlich haben beide Faktoren einen Anteil daran, dass heute fast nichts an die Verunsicherung von 1995 erinnert.

Aber es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu, der vermutlich wichtigste überhaupt: die politische und gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Wegen dieser apolitischen und hoffnungslosen Grundstimmung fällt auch die Freude der AKP über ihren Sieg, verglichen mit früheren Triumphen, bescheiden aus. Dass Erdogan noch in der Wahlnacht seine Anhänger zur Besonnenheit aufrief, war nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme, sondern auch ein Ausdruck des allgemeinen Trübsinns.

Volle Mitte

Jene politischen Bewegungen, die sich als ideologische Parteien und als Organisationen mit einem Kampfauftrag verstanden und sich darin von den staatstragenden Kräften unterschieden - auf der Rechten sind das die Islamisten sowie die neofaschistische MHP - tendieren seit etwa zehn Jahren zur politischen Mitte. Zugleich erodieren die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien. Mit den Wahlen vom November hat ihr Niedergang sein vorläufiges Ende erreicht. Zum ersten Mal seit 50 Jahren ist keine einzige Partei mehr im Parlament vertreten, die der Demokratischen Partei, der Hauptströmung des türkischen Konservatismus, entstammt.

Jenseits von Unzulänglichkeiten der politischen Führung oder Korruptionsvorwürfen liegen die Ursachen für diese Erosion in einem strukturellen Transformationsprozess. Auch die einst militanten Bewegungen führen inzwischen mit Staatsgeschäften vertraute Kader in ihren Reihen, unterhalten Beziehungen zu Kapitalfraktionen, auch sie haben klientelistische Netzwerke aufgebaut.

Die Parteien, die sich vom rechten Rand zur Mitte bewegten, hatten anfangs noch den Anspruch, diese Mitte zu verändern. Sie wurden dabei vom Establishment gezähmt, was nachhaltige Krisen zur Folge hatte. Die politische Befriedung provoziert bei einigen den Wunsch, wieder zum Radikalismus zurückzukehren. In der MHP und bei Milli Görüs siegten letztlich jene Kräfte, die sich darum bemühten, ihre Grundsätze ans System anzupassen und dabei das Gesicht zu wahren. Sie betrieben die Politik einer, wenn man so will, »ehrenvollen Integration«.

Die Islamisten haben ihre Integration und Zähmung in traumatischer Form erlebt. So war die Integration der MHP ein Prozess, dem das Establishment und die herrschenden Klassen außerordentlich wohlwollend begegneten, was vor allem durch die gemeinsame Staatsideologie erleichtert wurde. Die Wohlfahrtspartei hingegen wurde von niemandem in die Verantwortung genommen. Die Selbstdefinition der Mitte funktionierte gerade auch über die Abgrenzung von ihr, wie es zum Beispiel die Militärintervention von 1997 zeigte.

Durch diese Ausgrenzung aber blieb das Personal der Islamisten vom Verschleiß verschont, den die politische Integration mit sich bringt. Die islamistischen Kader begannen, gegen ihre Marginalisierung zu kämpfen, sie lernten hinzu und verschafften sich mehr Einfluss. Die neue islamistische Intelligenzija hat ihre in den achtziger Jahren erworbenen systemoppositionellen Kenntnisse in eine systemimmanente Opposition übertragen.

Dabei bildeten die Anfeindungen, mit denen sie konfrontiert blieben, das verbindende Moment zu ihrer Vergangenheit. Diese Benachteiligung genügte der AKP, sich selbst in politischer Kontinuität wahrzunehmen. Auch ihre Transformation geschah auf dieser Grundlage. Sie etablierte einen oppositionellen Diskurs, der sich nicht direkt gegen das System richtete, sondern gegen ihre Kriminalisierung. Im Gegensatz zur Glückseligkeitspartei, die der alten islamistischen Bewegung entstammte, die sich einkapselte und sich auf Erbakans Predigten aus den sechziger Jahren berief, trat die AKP mitsamt ihrer inneren Widersprüche die Flucht nach vorne an.

Eine neue Partei

Deswegen kann die AKP mittlerweile nicht allein als eine bloße Nachfolgeorganisation der Wohlfahrtspartei charakterisiert werden. Natürlich entstammt der konstituierende und tragende Apparat der Milli-Görüs-Bewegung. Aber schon auf das Führungspersonal trifft diese Feststellung nicht vorbehaltlos zu. Und vor allem ist die AKP wegen ihrer ideologischen Struktur eine andere Organisation.

Im Kern ist sie eine Partei, die sämtliche fundamentalen Merkmale der türkischen Rechten in sich versammelt: den Bezug auf nationalistisch-konservative Werte, die Verheißung von Wohlstand und Reichtum.

Es ist richtig, dass die AKP ein politisches und gesellschaftliches Protestpotenzial widerspiegelt. Aber hierbei handelt es sich um einen Protest, der noch nicht die Hoffnung auf eine Lösung der sozialen Probleme aufgegeben hat. Die Sprache der AKP ist eine des kontrollierten Protests. Im Mittelpunkt steht die seit mindestens 50 Jahren vorgetragene Klage über Anschuldigungen und Verdächtigungen, denen sich die Gläubigen ausgesetzt sehen.

Die Biografie und das Auftreten Erdogans signalisieren Verständnis für alle Erniedrigten und Marginalisierten, sowohl für die verarmten Menschen als auch für die, die sich wegen ihrer provinziellen Herkunft oder religiösen Orientierung an den Rand gedrängt fühlen. Aber sie werden nicht als revolutionäres Subjekt agitiert. Die AKP stellt ihnen nicht mehr in Aussicht, als dass sie künftig Gehör finden werden.

Was kann die neue Regierung tun, um das Leben der Deklassierten ein wenig zu verbessern? Soll sie sich entgegen der Direktiven des Internationalen Währungsfonds an einer - und sei es auch nur begrenzten - Reparatur des Sozialstaasts versuchen? Oder wird sie sich auf symbolische Ersatzhandlungen beschränken?

Viele Gesichter

Anders als die Wohlfahrtspartei besitzt die AKP nicht den Charakter, eine Partei und eine Bewegung zugleich zu sein. Natürlich verfügt sie über einen vergleichsweise gefestigten und professionellen Apparat. In ihrem Umfeld befindet sich auch genügend geistiges Potenzial, sodass sie sich nicht wie die klassischen Mitte-Rechts-Parteien auf Werbeexperten verlassen muss. Aber die korpsartige, militante Struktur der Wohlfahrtspartei in der Ära vor 1995 geht der AKP abhanden. Es fehlt auch ein breites gesellschaftliches wie ideologisch-intellektuelles Netz, dass die alte Partei Erbakans umgab.

Einen großen Einfluss innerhalb der Partei hat ein nationalistisch-konservativer, aus dem hohen Staatsdienst kommender Kreis. Zu den führenden Köpfen dieses Flügels gehören der neue Verteidigungsminister Vecdi Gönül sowie der neue Innenminister Abdülkadir Aksu. Seit Turgut Özal 1989 ins Amt des Staatspräsidenten wechselte und Mesut Yûlmaz die Anap überließ, arbeitet diese Fraktion daran, das (Mitte-) Rechts-Spektrum in eine nationalistisch-konservative Richtung zu verschieben und eine neue, starke rechte Regierungsmacht zu schaffen.

Ihr programmatisches Ziel ist, wie sie sagen, die »Aussöhnung von Staat und Volk«. Sie wollen die Fähigkeit des Regimes ausbauen, allgemeine Zustimmung zu erhalten. Diese Fraktion, die über genügend ministrables Personal verfügt, stellt für die politischen und individuellen Rechte und Freiheiten eine größere Gefahr dar als das kemalistisch-laizistische Gespenst von irgendwelchen Anhängern der Sharia.

Neben dem aus der Milli Görüs stammenden Kern der Organisation und dieser nationalistisch-konservativen, staatstragenden Fraktion lässt sich in der AKP eine weitere Richtung ausmachen, es ist eine, die die Partei als neuen Träger einer freiheitlich-liberalen, sogar linksliberalen Entwicklung betrachtet.

Diese Strömung will gegen den Elitismus und Autoritarismus des kemalistischen Establishments die religiöse Mehrheit der Bevölkerung stärker an der politischen Macht beteiligen und damit die Demokratisierung des gesamten Landes fördern. Zwar ist sie in der Basis nicht verankert und hat keinen maßgeblichen Einfluss auf die entscheidenden Gremien. Allerdings ist diese Strömung in öffentlichen und meinungsbildenden Organen der Partei, im Fernsehsender Kanal 7 oder in der Tageszeitung Yeni Safak, überproportional vertreten.

Wichtig ist auch eine Klassenanalyse der Wähler und der Klientel der AKP. »Tayyip«, wie Erdogan in der Bevölkerung zumeist genannt wird, wurde sowohl in den Städten als auch in der Provinz vor allem von den Armen gewählt. Zudem ist er seit jeher der Repräsentant der »anatolischen Tiger«. Der politische Islam in der Türkei repräsentierte seit seiner Entstehung in den siebziger Jahren einen bestimmten Teil des Kapitals. Mit den jüngsten Wahlen ist diese Beziehung deutlicher als je zuvor zu Tage getreten, sie zählte sicher zu den wichtigsten Gründen für die Niederlage der etablierten Parteien. Die Partei des Mittelstands und des anatolischen Großkapitals ist inzwischen die AKP.

Sie wird dieser »alternativen Bourgeoisie« helfen, an Ressourcen und Märkte zu gelangen. Zugleich aber wird sie sie darin unterstützen, sich als bourgeoise Klasse zu formieren und als solche ihre Interessen zu verfolgen. Bislang ist noch nicht abzusehen, welche Formen der Verteilungskampf zwischen dieser neuen, anatolischen und der alteingesessen, städtischen Bourgeoisie annehmen wird. Dieser Konflikt spielte auch bei der Militärintervention von 1997 eine wichtige Rolle.

b>Die Linke

Indes sprechen die vernünftigen Stimmen in der AKP von »gesellschaftlichem Frieden« und einer »Normalisierung« und betonen die Möglichkeit eines sukzessiven demokratischen Wandels. Dieser Option stehen die konservativen Kräfte entgegen, die an der Aussöhnung mit dem Establishment arbeiten. Früher oder später dürfte dieser Konflikt ausbrechen und so zu einer Richtungsentscheidung führen.

Wie sie ausfällt, hängt auch vom Verhalten der anderen Akteure ab, etwa von der einzigen parlamentarischen Oppositionspartei, der CHP. Sie steht vor der Frage ob sie, ihrer Herkunft gemäß, die Rolle der Sprecherin des autoritären Regimes übernimmt oder ob sie, ihrer zweiten Traditionslinie entsprechend, als sozialdemokratische Kraft agiert und sich an der Ausdehnung der politischen Handlungsmöglichkeiten beteiligt.

Für die radikale Linke, für alle Parteien, die sich links der sozialdemokratischen CHP verorten, ist dieses Wahlergebnis so verheerend wie demoralisierend. Sie müssen nach den Gründen suchen, warum sie in einer solchen Situation der grassierenden Armut und Verelendung keinen Zuspruch gewinnen konnten. Ohne eine grundlegende Auseinandersetzung über ihr Image und ihre Botschaften, über ihren Politikstil und ihre geistige Verfassung wird die radikale Linke ein Teil des allgemeinen Trübsinns bleiben, statt ihn in einen sozialen Protest umzuwandeln.