»Das Ziel ist nicht die Macht«

diego stzulwark ist Mitglied des Colectivo Situaciones. Es arbeitet in Argentinien mit anderen radikalen Gruppen wie den autonomen Piqueteros zusammen

Am 19. und 20. Dezember des vergangenen Jahres protestierten unterschiedliche Menschen und Gruppen plötzlich gemeinsam. In einem eurer Texte sprecht ihr vom »Aufstand neuen Typs«. Was heißt das?

Uns erschien diese Bezeichnung passend, um die riesigen Unterschiede zu den klassischen Aufständen des 20. Jahrhunderts auszudrücken, die alle ihre Hoffnungen auf marxistische Führer setzten. Es gibt hier keine zentralisierte Organisation, die alles plant. Es gibt keinen genialen Anführer, der sich vorher schon Gedanken über das Datum des Aufstandes macht und der nur an die Übernahme staatlicher Macht denkt. Denn das Ziel ist es nicht, die Macht zu übernehmen.

In den ersten Monaten wurden viele Menschen mobilisiert. Aber im Laufe des Jahres gab es Probleme. Sowohl die Asambleas (Stadtteilversammlungen) als auch die Piqueteros (organisierte Arbeitslose) mussten erleben, dass nicht viel voran ging. Worin bestanden die Konflikte?

Bei den Asambleas war das Hauptproblem, dass es zwei unterschiedliche Sichtweisen gab. Die einen wollten in den Asambleas eine öffentliche, politische, gut organisierte Bewegung sehen, die sich möglichst darauf konzentriert, was im Casa Rosada (dem Präsidentenpalast) gerade passiert. Sie wollten sich auf ein Machtzentrum fokussieren. Und es gab Leute, die diese Linie ablehnten. Sie wollten eine basisdemokratische Ausrichtung und eine Orientierung daran, was in den Stadtteilen geschieht. Vor allem Mitglieder linker Parteien bestanden auf einer allgemeinen Koordination. Auf der anderen Seite standen die Nachbarn, die keiner Organisation angehörten und die den klassischen Mechanismen der im Parlament repräsentierten Parteien zutiefst misstrauten.

Als im Juni dieses Jahres zwei Piqueteros von Polizisten getötet wurden, blieb die gesamte Bewegung ziemlich lange eingeschüchtert und still. Warum hat es keine größeren Proteste gegeben?

Am 26. Juni hat man der Bewegung der Piqueteros eine Falle gestellt. Sie war nicht darauf gefasst, dass die Polizei einen Kessel bilden und Leute gezielt verfolgen würde. Das Problem war vor allem ihre fehlende Erfahrung. Die Piqueteros waren danach einen Tag lang völlig desorientiert. Zudem gab es eine gut organisierte Kampagne der Rechten. Aber besonders die populären und gut organisierten Gruppen schafften es in kürzester Zeit, die Wahrheit ans Licht zu bringen: Die Piquteros wurden gezielt von der Polizei umgebracht. Der Vorfall hatte sich nicht in der Bewegung selbst zugetragen, wie es die Presse zuerst behauptete. Es gab, bis auf wenige Ausnahmen, eine große Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen. Die Angst aber war danach, vor allem für die Menschen in den Stadtvierteln, ein entscheidender Punkt.

Wenn die Bewegung weiter wächst und sich inhaltlich stärker positioniert, stellt sich die Frage der staatlichen Repression von neuem. Immerhin ist es möglich, dass der neue argentinische Präsident ab Mai wieder Carlos Menem heißt.

Die Repression ist seit dem 26. Juni größer geworden, und man darf keine Entwarnung geben. Vor allem, wenn bei bürgerlichen Parteien, besonders den Peronisten, die Möglichkeit, ihre Macht, auf welche Weise auch immer, wieder zu stabilisieren, äußerst fragil bleibt. Gleichzeitig wollen die Akteure des »Aufstands neuen Typs« der gewalttätigen Intervention des Staates nicht die gleichen militärischen Mittel entgegensetzen. Vielmehr soll ein Netz geschaffen werden, das der staatlichen Repression standhält, sie aber ins Leere laufen lässt. Dem Krieg Widerstand entgegensetzen, ohne ihn weiter zu eskalieren, um ihn vielmehr zu vermeiden.

Existiert in der sozialen Bewegung der Wunsch nach einer offizielleren Politikform, die sich im Parlament artikuliert und gleichzeitig ihre Verbindung zur Basis nicht verliert? Käme dafür beipielsweise Victor de Gennero, der Vorsitzende der linken Gewerkschaft CTA, in Frage?

De Gennero war am 19. und 20. Dezember 2001 nicht einmal auf der Plaza de Mayo. Er hat keinen Rückhalt bei den Leuten. Außerdem spielt er seit September ein doppeldeutiges Spiel um die Macht. Er und seine Verbündeten planen, so etwas wie die brasilianische Arbeiterpartei (PT) für Argentinien zu gründen. Aus unserer Perspektive erscheint der PT in Brasilien vielleicht interessant, auch wenn wir nicht mit ihm sympathisieren. Auf argentinische Verhältnisse lässt sich das jedoch nicht übertragen. De Gennero hat zudem keine neue Strategie. Vielmehr versucht er, den alten Stil der Politik wieder salonfähig zu machen.

Wenn man sich die Plakate, die Aufrufe und die Parolen bei den großen Demonstrationen ansieht, fällt der affirmative Bezug auf die Nation und das argentinische »Volk« auf. Das sind Elemente aus den siebziger Jahren, aus dem so genannten Linksperonismus.

Manche haben die Hoffnung, wenn man erst die staatliche Macht innehat, auf nationaler Ebene die Produktion vor dem globalen Finanzmarkt schützen zu können. Das glauben nicht nur die Peronisten, sondern auch die CTA. Andere wollen der Nation angesichts der Globalisierung nicht mehr diese Macht zusprechen. Daher glauben sie, dass man sich einen neuen Bezugsrahmen suchen muss. Diese Position ist sehr stark und hat viele Anhänger in dem Teil der Asambleas, die für neue Politikformen eintreten.

Könnten die zahlreichen Fabrikbesetzungen dafür den Rahmen bieten? Gibt es dort Anzeichen für autonome Produktionsformen, die sich untereinander vernetzen?

Das ist alles sehr prekär. Die Fabriken wurden besetzt, nachdem sich die Eigentümer aus dem Staub machten, weil sie Angst vor der Pleite oder vor rechtlicher Verfolgung wegen Unterschlagung hatten. Die Arbeiter sind jetzt vor allem damit beschäftigt, die Schließung zu verhindern. Es gibt bis jetzt noch kein Beispiel für eine besetzte Fabrik, die einfach normal funktioniert und produziert. Es existiert eine starke Solidarität zwischen den besetzten Fabriken und den Asambleas vor Ort. Wenn die Polizei kommt, soll so verhindert werden, dass die Fabrik geräumt wird und die Arbeiter rausgeschmissen werden.

Es gibt zwar auch Kontakte zwischen den Fabriken und eine gewisse Form der Koordinierung, aber man muss doch sehen, dass die Menschen, die eine Fabrik besetzen, keine politischen Aktivisten sind. Die Erfahrungen, die sie machen, sind alle sehr neu für sie. Deswegen wird jetzt auch erst ansatzweise darüber gesprochen, wie ein alternatives Produktionsnetz zwischen den besetzten Fabriken, der Bewegung der Kleinbauern und den Piqueteros aussehen könnte.