Türkei: Hungerstreik in den Gefängnissen

Endloses Sterben

Unbemerkt von der Öffentlichkeit dauert der Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen an und geht ins dritte Jahr.

Die Geschichte ist gleichermaßen abscheulich, beispiellos und absurd: »Die 100. Märtyrerin des Todesfastens« meldete die Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP/C) am 30. November. An diesem Tag war die 24jährige Zeliha Ertürk in einem Krankenhaus in Istanbul an den Folgen ihres seit Anfang Juni geführten Hungerstreiks gestorben.

Am selben Tag wurde eine mit »Gefangenenkomitee der DHKP/C« unterzeichnete Erklärung verbreitet. »Die neunte Todesfastengruppe«, hieß es darin, »hat sich dem Widerstand angeschlossen. Schon vor Monaten haben wir gesagt, dass die Zahl unserer Märtyrer noch weiter steigen kann. (...) Wir leisten weiter Widerstand. Wir wissen sehr genau, dass wir siegen werden.« Seit mehr als zwei Jahren geht das nun so, und ein Ende ist nicht in Sicht, ein »Sieg« noch weniger.

Im Oktober des Jahres 2000 begannen Mitglieder der DHKP/C sowie zweier weiterer illegaler linker Organisationen einen Hungerstreik, um die geplante Einführung der »F-Typ« genannten Isolationsknäste zu verhindern. Zwei Monate später schien zumindest eine vorläufige Lösung möglich, als der damalige Justizminister Hikmet Sami Türk erklärte, die Verlegung von Gefangenen in die neuen Gefängnisse würde vorerst aufgeschoben. Die beteiligten Organisationen, allen voran die DHKP/C, die weitaus größte Organisation der bewaffneten türkischen Linken, lehnten dieses Angebot ab.

Am 19. Dezember 2000 stürmten Einheiten des Militärs und der Polizei die Gemeinschaftszellen (Jungle World, 2/01). 29 Gefangene starben bei der »Operation Rückkehr ins Leben«. Selbstmord oder von Mitgefangenen erschossen, lautete die offizielle Version. Der Menschenrechtsverein (IHD) bestätigte hingegen nur zwei Selbstverbrennungen. Die anderen 27 Menschen starben nach Angaben des IHD dadurch, dass sich die riesigen Mengen des Tränen- und Reizgases entzündeten, die die Sicherheitskräfte zusammen mit Schock- und Blendgranaten in die Zellen gefeuert hatten. Manche seien auch von den Sicherheitskräften erschossen oder erschlagen worden.

Nach diesem Angriff wurden die Gemeinschaftszellen geräumt und die Inhaftierten in die F-Typ-Gefängnisse überführt. Die Aktion war also gescheitert. Doch der Hungerstreik wurde nicht abgebrochen, stattdessen schlossen sich ihm andere Organisationen an. Gleichzeitig begannen Sympathisanten und Familienangehörige mit Solidaritätshungerstreiks.

In der folgenden Zeit stieg die Zahl der Toten weiter an, während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der türkischen wie der ausländischen, völlig erlahmte.

Im Mai dieses Jahres brachen acht Organisationen die Aktion ab. »Wir haben mit unserem Widerstand die Pläne des Faschismus durchkreuzt«, hieß es in ihrer gemeinsamen Erklärung. »Ideologisch und moralisch haben wir gesiegt. (...) In der jetzigen Situation hat unser Todesfasten in unserem Kampf gegen die Isolationshaft der F-Typ-Zellen seine revolutionäre Rolle erfüllt.«

Zwar konnte tatsächlich von einem Sieg keine Rede sein, da das erklärte Ziel, die Einführung der Isolationsknäste zu verhindern, gescheitert war. Dennoch war diese Erklärung, lässt man ihren pathetischen Ton beiseite, die zu diesem Zeitpunkt längst überfällige, einzige sinnvolle Konsequenz aus der Niederlage. Auch die Angehörigen beendeten ihre Solidaritätshungerstreiks, die DHKP/C sowie eine weitere kleinere Gruppe aber machten weiter.

Inzwischen ist die Zahl der Toten auf 103 gestiegen. Nach einer Auskunft der Angehörigenorganisation Tayad befinden sich derzeit 20 Personen im Hungerstreik. Rund 500 Gefangene seien in der Folge des Hungerstreiks oder der Zwangsernährung schwer erkrankt, viele leiden unter dem Wernicke-Korsakow-Syndrom, das unter anderem einen völligen oder partiellen Gedächtnisverlust bewirkt.

Zum Schweigen der türkischen Öffentlichkeit hat sicher beigetragen, dass im Dezember des Jahres 2000 ein Sende- und Veröffentlichungsverbot über die F-Typ-Gefängnisse und die Hungerstreiks verhängt wurde. Dieses Verbot wurde im letzten Sommer aufgehoben. Das repressive Totschweigen war überflüssig geworden. »Es gibt keine Aufmerksamkeit oder Unterstützung der Öffentlichkeit«, sagte der Redakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Oral Çalislar, der Jungle World. Er gehört einer Gruppe von Intellektuellen, Künstlern und Menschenrechtsaktivisten an, die bereits vor der Erstürmung der Knäste versuchte, in diesem Konflikt zu vermitteln. Seither aber scheiterten alle Kompromissvorschläge an der Unnachgiebigkeit der Regierung.

Die DHKP/C, aber auch viele andere gauchistische Gruppen, hatten schon in den Jahren zuvor ihre »Märtyrer«-Politik betrieben. Auch bei diesem Hungerstreik dürfte eine gewisse Anzahl an Toten nicht nur einkalkuliert, sondern, da die Organisationen ihre Legitimität und ihr Selbstbewusstsein aus ihren »Gefallenen« ziehen, auch erwünscht gewesen sein.

Die Lösung, die im Dezember 2000 möglich erschien, wäre vielleicht keine dauerhafte gewesen, aber sie hätte einen Etappensieg bedeutet. Dass sie abgelehnt wurde, dürfte in erster Linie auch daran gelegen haben, dass damals noch niemand gestorben war. Mit ihrer martialischen und religiösen Rhetorik und Symbolik ist die DHKP/C inzwischen konsequenterweise dazu gelangt, im radikalen Islamismus einen Verbündeten zu sehen. Dass diese Aktion aber in einem solchen Desaster enden würde, hatte wohl auch sie nicht vermutet.

»103 Menschen sind als Märtyrer gefallen«, sagt Volkan Agirman von Tayad der Jungle World, »da kann man nicht einfach aufhören.« Ein Argument, mit dem man noch einige hundert Menschen opfern könnte, ohne dass dies zu einer Verbesserung der Haftbedingungen in den F-Typ-Gefängnissen führen müsste. Von einer Abschaffung dieser Haftanstalten redet inzwischen niemand mehr.

Allerdings sind auch die anderen Segmente der Linken, von der Sozialdemokratie über die legalen kommunistischen Parteien bis zu den Kurden, in einer ebenso unerfreulichen Situation. Nach den Wahlen im November mussten sie eine historische Niederlage verbuchen. Mit zehn Jahren Verspätung erlebt die türkischen Linke ihren Untergang.

Von dem Epochenbruch der Jahre 1989/90 war sie weitgehend verschont geblieben. Ihr Kollaps war bereits mit dem Militärputsch von 1980 eingetreten, während in den neunziger Jahren der Krieg in Kurdistan für eine neue Politisierung und Polarisierung der Gesellschaft sorgte. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise und der drohenden islamistischen Krisenverwaltung wird heute eine aufgeklärte Linke vielleicht mehr denn je gebraucht. Die türkische Linke aber ist tot, und einige derer, die noch übrig sind, bringen sich vorsätzlich selbst um.