Mastwurf im Diskurs

Sportarten im Selbstversuch, Teil IV: Bergsteigen.

Wir wollten das Bergsteigen lernen. Wandern reichte nicht mehr, und unser bisschen Rumkraxeln sollte auch nicht mehr als Bergsteigen gelten. Drei Jahre ist es her, dass meine Freundin und ich diesem Entschluss folgend einen Basiskurs beim DAV-Summit-Club buchten, einer Firma, die eng mit dem Deutschen Alpenverein assoziiert ist.

Weil wir danach ins Himalaya wollten und trotz vieler bunter Fachliteratur keine Ahnung hatten, was man da wirklich können muss, schien es uns nicht falsch zu sein, uns mal in den Alpen mit bestimmten Dingen etwas professioneller vertraut zu machen, als wir es bis dato kannten. Die Idee mag bekloppt anmuten, sie erwies sich aber als sehr klug. Oder zumindest als schön.

Zwei je neunköpfige Gruppen hatten sich zu diesem Kurs eingefunden, vom Summit-Club mit je einem Bergführer versorgt und untergebracht im Stubaital, genauer: in der Franz-Senn-Hütte auf 2 147 Meter Höhe, die, wer sich dafür interessiert, auch im Internet anzugucken ist www.fankhauser.at Die Franz-Senn-Hütte ist sehr modern, sie hat ein eigenes kleines Wasserwerk, das für Strom und Wasser sorgt.

Untergebracht waren wir nicht in den schrecklichen Matratzenlagern, die es ja auf jeder Hütte gibt, sondern es war mehr als nur ein klein wenig besser: in Vierbettzimmern. Zusammen mit einem jungen Ehepaar aus der Nähe von Krefeld, das in der anderen Gruppe Bergsteigen lernte, wodurch wir einen regen Informationsaustausch sicherstellen konnten, hausten wir dort. Am ersten Tag ging unsere Gruppe auf den Schafsgrübler, ein nicht weiter wichtiger, aber immerhin 2 922 Meter hoher Berg, den man von der Hütte in etwa vier Stunden erreichen kann und für den man nur kleinere Klettereinlagen benötigt.

Horst, unser Bergführer, versammelte uns an diesem ersten Tag immer mal wieder, um über Wetterkunde, Kartenlesen und anderes zu sprechen. Unsere Gruppe bestand aus einem dicklichen schwäbischen Bankangestellten, einem vom Ehrgeiz zerfressenen Hamburger Sozialarbeiter, einer sich selbst überschätzenden hessischen Studentin, einer ängstlichen Münchner Sozialpädagogin, einem angenehm lässigen hessischen Computerexperten, einem von einem Job in der Münchner Finanzverwaltung träumenden Bonner Finanzministeriumsbeamten, einer freundlichen, ein wenig esoterischen schwedischen Betriebswirtin und eben aus uns beiden.

Plus Horst, von dem kein Nachname in Erfahrung zu bringen war, aber es reicht zu wissen, dass er Bergführer ist und in der Szene einen recht guten Ruf als Kletterer besitzt, was zur Folge hatte, dass er alles, was mit Klettern zu tun hatte, mit ganz großer Begeisterung erklärte und alles, was nicht so ganz dazugehörte, beispielsweise Gletscherbegehungen, nur mit gebremster Leidenschaft machte.

So lernten wir also irgendwie und beinahe emotionslos, wie man einen als sehr steil erscheinenden Schneehang mit Steigeisen erklimmen kann beziehungsweise wieder »nobi kimmt«. Auch das richtige Stürzen im Schnee- und Eisfeld wurde gelernt, das Fixieren im Firn und im Eis, die Spaltenbergung sowie eine Menge anderer Sachen, die sich zunächst ziemlich abenteuerlich anhörten.

Horsts Liebe, wie gesagt, aber gehört dem Klettern, und entsprechend motiviert ging es an einem Tag auch in einen Klettersteig namens »Edelweiß«. Klingt blöde, aber weil nicht jeder diesen Steig erklimmen kann, stehen in der Wand tatsächlich Edelweißpflanzen. Und so oft sieht man die ja in der freien Natur nicht. Es ging los, alle in einer Reihe und Horst mal vor uns, mal unter uns, mal neben uns, und allein durch seine Schnelligkeit jedem demonstrierend, dass es noch ein Klettern jenseits des Edelweißsteiges geben muss.

Schritt für Schritt, Tritt nach Tritt, immer sind wir an einem Drahtseil gesichert, wie es an Klettersteigen nun mal dazugehört. So wird das Klettern, das von unten so schwierig aussieht, zur ziemlich sicheren Veranstaltung. Da muss man auch mal einen sehr weiten Schritt machen. Da ist mal der nächste Tritt sehr, sehr klein. Da ist mal ein kleiner Überhang, von dem Horst sagt, das sei schon »eine Viererpassage, vielleicht sogar vier plus«. So lässt einen sogar in der Wand der Diskurs nicht in Ruhe: das Sprechen über die Tätigkeit, die die Integration in die Gemeinschaft der Tätigen bewirkt.

Oho, eine Vier-plus-Passage. Jetzt kann ich mitreden, jetzt bin ich Kletterer. Wir lernen viel in der Wand: Wie man Tritte findet; dass man auch einem Tritt vertrauen kann, der nur aus etwas mehr als der Fläche des mittleren Zehes besteht; dass man mehr steigen muss und weniger ziehen, dass man also weniger der Armkraft vertrauen sollte und mehr dem Tritt.

Als wir oben ankommen, glauben alle, wir hätten eine Wand bezwungen. Am nächsten Tag geht eine österreichische Schulklasse in diesen Steig und macht alles viel schneller und eleganter. Nicht nur der Bergführer Horst zeigt uns also, dass es tatsächlich noch besser geht.

An einem anderen Tag gehen wir in den Klettergarten. Solche Unerlässlichkeiten wie Mastwurf und Halbmast haben wir gelernt, und auch den gesteckten Sackstich. Allesamt wichtige Knoten. Erst übten wir das einfache Abseilen mit dem Achter, einem kleinen metallenen Teil, das in seiner Bedeutung für die Menschheitsgeschichte dem Feuer und dem Rad nicht nachstehen sollte, einem Abseilgerät, das dafür sorgt, dass man nicht mit dem von der Fallhöhe, der Schwerkraft und dem Körpergewicht diktierten Tempo runterrasselt, sondern langsam, Schritt für Schritt und alles genießend hinabsteigt.

Dann kletterten wir eine steile und für Ungeübte glatt aussehende Wand hoch. Gesichert durch Seile, die Horst, ungesichert natürlich, hochgebracht hatte und die aus weit über uns thronenden Sicherungen herunterfielen. »Toprope« sagen Kletterer dazu, und auch hier gilt: Wer souverän mit diesen Begriffen hantiert, gehört dazu.

Unten muss freilich noch einer stehen, der das Seil hält, sonst gehört man nicht mehr so lange dazu. Den beäugten wir mit entsprechend großer Sorge. Bei mir war es die sich überschätzende hessische Studentin, der ich nicht so recht traute, als sie das Seil hielt, an dem in diesem Moment, nun ja, doch, doch, mein Leben hing. Und dem mit leichten Paniksymptomen ausgestatteten Hamburger Sozialarbeiter, traute ich, ehrlich gesagt, auch nicht so ganz.

Aber Klettern wollte ich, also überwand ich mich. Und es machte grandiosen Spaß, diese bei genauem Betreten zum Glück doch nicht ganz glatte Wand hochzukommen. Etwas zu tun, das nach bisheriger menschlicher Erfahrung nur mit Tricks aus Filmstudios möglich schien, nämlich eine steile Wand hochgehen. Also eigentlich gegen die Physik zu verstoßen.

Es blieb nicht bei der Kletterwand und auch nicht beim Edelweiß-Klettersteig. In der übrigen Zeit bestiegen wir Berge mit verwegenen Namen wie Wildes Hinterbergl (3 288 Meter) oder Wilder Turm (3 154 Meter). Das Ganze nannte sich Basiskurs, dem folgt dann ein Grundkurs, wo auch immer da die sprachliche Logik versteckt sein könnte. Anschließend werden Fortgeschrittenen- und Aufbaukurse angeboten, und ein Ende hat die Lernerei nie.

Im Himalaya haben wir die ganzen Tricks und Griffe natürlich nie gebraucht.