Venezuela: Aufstand gegen Hugo Chávez

Spannung ohne Strategie

Der Kampf um die Kontrolle des venezolanischen Staates geht weiter. Aus der Polarisierung der Gesellschaft kann ein Bürgerkrieg werden.

Noch füllt der ohrenbetäubende Lärm der »Bin Laden«- und »Mata suegras«-Böller die verstopften Straßen von Caracas. Aber niemand kann ausschließen, dass bald Schüsse und Explosionen diese traditionellen weihnachtlichen Feuerwerke ersetzen werden.

Die dritte Woche eines partiellen Streiks hat begonnen, zu dem die oppositionelle Coordinadora Democrática aufgerufen hat, die sich hauptsächlich aus der Unternehmervereinigung Fedecámaras und dem Gewerkschaftsverband Confederacion de Trabajadores de Venezuela (CTV) zusammensetzt. Die Spannungen in der venezolanischen Gesellschaft wachsen täglich. Für die Anhänger des umstrittenen Präsidenten Hugo Chávez (s. nebenstehendes Interview) hat ein »revolutionärer Prozess« begonnen. Die Opposition hingegen meint, es handele sich eher um einen »räuberischen Prozess«; sie versucht, den Rücktritt des Präsidenten oder zumindest vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen.

Lediglich in den ersten beiden Tagen war der Streik effektiv. Doch zu einem entscheidenden Faktor wird die Arbeitsverweigerung in der Verwaltung der staatlichen Ölgesellschaft PVDSA. Die Einschätzungen blieben bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe widersprüchlich. Die Opposition versichert, dass die Ölvorräte nicht für die innere Versorgung ausreichten. Regierungsvertreter beklagten den »Streik der Leistungselite«, der hohen Angestellten der PDVSA, die »einen Staat im Staate« errichtet hätten.

Deshalb spricht der Vizepräsident José Vicente Rangel lieber von »gemeiner Sabotage« und nicht von einem legitimen Streik für höhere Löhne. Die Exekutive wird auch nicht müde, den »putschistischen« Charakter der Mobilisierung zu beklagen. Die mittlerweile von Putschisten »gesäuberte« Armee ihrerseits erklärte am 16. Dezember, dass der Streik einen »Angriff auf das Überleben des Staates« darstelle und »die Grenzen des demokratischen Spiels« überschreite.

An der Opposition verwundert das seltsame Bündnis aus Unternehmern und Gewerkschaftsführern. Während der Chef der Unternehmervereinigung, Carlos Fernández, die Regierung Chávez als »castro-kommunistisch« bezeichnet, nennt sie der Gewerkschaftsführer Carlos Ortega »faschistisch«.

»Es gibt Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, aber hier handelt es sich um einen sozialen Protest, der über den Bereich von Unternehmen und Arbeitern hinausgeht«, sagt der CTV-Funktionär Pablo Castro, der die Strategiekommission der Coordinadora Democrática koordiniert. »Es handelt sich um eine taktische Allianz gegen eine Politik, die Demokratie und Freiheit bedroht.«

Die Opposition wird durch ihre Feindschaft zu Chávez zusammengehalten; ein politisches Programm hat sie nicht. »Das ist etwas, was man möglichst schnell lösen sollte«, sagt der Brigadegeneral Angel Sánchez Velasco von der militarisierten Nationalgarde. Er befindet sich seit dem 23. Oktober im »berechtigten Ungehorsam, wie ihn die Verfassung erlaubt«, und zwar auf der Plaza Francía im wohlhabenden Stadtteil Altamira. Auf diesem Platz verloren am 6. Dezember drei Personen ihr Leben, als ein einzelner Angreifer wild um sich feuerte.

Die Opposition fordert die Durchführung einer Volksbefragung am 2. Februar, zu der Chávez seine Zustimmung erteilen müsste. Der Präsident jedoch bleibt fest entschlossen, den von der Verfassung vorgesehenen Weg einzuhalten; er gibt seine Zustimmung zu einem Referendum für Neuwahlen erst nach dem 19. August, wenn die Hälfte seiner Amtszeit abgelaufen ist. »Von jetzt bis August ist zu viel Zeit«, meint General Velasco, »denn schon heute ist der Präsident dabei, mit seinem politischen Projekt die venezolanische Gesellschaft nach unten, nicht nach oben anzugleichen. Das heißt, dass er uns alle ärmer machen wird.«

Oscar Yanes, ein Historiker und Kommentator beim TV-Sender Venevisión, gibt gegenüber der Jungle World offen zu, dass es »ein Fehler wäre«, auf das verfassungsmäßige Referendum zu setzen: »Denn es basiert darauf, dass der Präsident nur dann die Macht verliert, wenn mehr Stimmen gegen ihn abgegeben werden als er einst bei der Wahl erhalten hat. Um Chávez zu stürzen, müssten wir also mehr als drei Millionen Wähler zusammenbekommen, und das ist wirklich unmöglich.«

Andere richten ihren Blick schon auf die Militärs. Der Kommentator Oscar Yanes, Gastgeber eines illustren Treffens von Mitgliedern des Unternehmerverbandes Fedacámaras, glaubt, dass »die einzige Lösung darin besteht, dass die Streitkräfte Chávez zum Rücktritt auffordern. Denn wenn sie das tun, ist ein Putsch nicht mehr notwendig, Chávez wird von alleine gehen.«

Juan Fernández, ein hoher Funktionär des PDVSA und eines der bekanntesten Gesichter der Opposition, begründet seine Forderung nach Neuwahlen mit einem angeblichen Wahlbetrug Chávez': »Die meisten Venezolaner haben nicht für eine Revolution gestimmt, sondern für das Ende der Korruption, dafür, dass es Ordnung, Arbeit und soziale Gerechtigkeit gibt (...) In diesen vier Jahren wurde nichts davon erreicht. Der einzige Diskurs, den wir gehört haben, war der der Revolution.«

Trotzdem geht Rodrigo Chaves, der Koordinator der von der Opposition verteufelten Bolivarianischen Zirkel, davon aus, dass »die Opposition nur deswegen auf diese Weise reagiert, weil ihre Interessen angegriffen werden«. Er besteht darauf, dass dieser »reaktionäre Sektor« nur auf einen Putsch setzt. »Wären sie wirklich an Wahlen interessiert, wüssten sie, dass sie dafür Zeit zur Vorbereitung bräuchten. Wie ist es dann zu erklären, dass sie auf Wahlen in zwei bis drei Monaten bestehen? (...) Sollte das Ergebnis sie bestätigen, würden sie es benutzen. Falls nicht, würden sie es ignorieren.«

Rafael von der venezolanischen anarchistischen Zeitung El Libertario stellt die »revolutionäre« Reichweite des »bolivarianischen Prozesses« in Frage: »Seit dem 11. April - dem versuchten Putsch gegen Chávez - glauben die durch den Chavismo radikalisierten Sektoren, dass dies die Gelegenheit war, die Revolution voranzutreiben. Aber von oben schränken sie die Beteiligung ein. Es ist unglaublich, wie Chávez die Handlungsweise seiner Vorgänger wiederholt: Alles verändern, damit sich nichts verändert.« Er kritisiert an dem ehemaligen Fallschirmspringer auch die Art, Politik zu machen: »militaristisch, konfrontativ und mit einer falschen Einschätzung des Kräfteverhältnisses«.

Angesichts dieser turbulenten Situation meint der Journalist Andrés Oppenheimer, das Land durchlebe vor allem eine psychische Krise. Einige betrachten sogar die Teilnehmer an den cacerolazos, den Kochtopf-Demonstrationen der Opposition - die täglich ab 20 Uhr stattfinden, während die Regierungstreuen zwei Stunden danach demonstrieren -, als eine heterogene Gruppe von Depressiven, die »irgendein Gefühl der Zugehörigkeit brauchen«.

Aber auch auf Chávez werden ähnliche Deutungsmuster angewendet. Der Psychiater Juvenal Villasmil analysierte den Präsidenten in einem Interview mit der venezolanischen Wochenzeitung La Razón: »In der Persönlichkeit von Chávez gibt es Charakterzüge, die ins Pathologische gehen, wie seine Neigung zum Narzissmus und zum Komödiantentum. Im Allgemeinen entwickeln die, die an die Macht gelangen, stets solche Züge.«