Die Krise in Argentinien

Zwischen Marx und Bakunin

Argentinien hat sich in ein soziales Laboratorium verwandelt. Die Entstehung neuer radikaler und autonomer sozialer Praktiken stellt Wissenschaftler und die Mitglieder von traditionellen rechten und linken Parteien vor ein Rätsel.

Die argentinischen Marxisten interpretierten die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember des vergangenen Jahres rund um die Casa Rosada auf ihrer Website »El Militante« als den Beginn eines »revolutionären Prozesses«, der Jahre dauern könne. Um ihre These zu untermauern, bemühen sie Leo Trotzki: »Das nicht zu diskutierende Kennzeichen jeder Revolution ist die direkte Beteiligung der Massen an historischen Prozessen. Unter diesen Bedingungen wird die Tagesordnung der Ereignisse weder vom Kongress, noch vom Militär, noch von den Leitartikeln der bürgerlichen Presse bestimmt, sondern von den Aktivitäten der Massen auf der Straße.«

Die historische »Föderation Libertäres Argentinien« meint, dass die Bevölkerung »aufzuwachen scheint«, warnte aber bereits im März dieses Jahres davor, »unvorsichtig zu werden, da es in der argentinischen Gesellschaft nach wie vor eine ultrarechte Kultur gibt, die von der Regierung treu unterstützt wird, in geringerem Maße auch von Anhängern der autoritären Linken. Vor allem von den atomisierten und in sich zerstrittenen trotzkistischen Strömungen ist keine größere Unterstützung zu erwarten.«

Der marxistische Historiker Alan Woods, der Argentinien Anfang Dezember besuchte, prophezeit neue »soziale Explosionen« in den kommenden Monaten. Als Begründung führt er an, dass es in den »ersten zwölf Monaten nach den Ereignissen vom vergangenen Dezember dem argentinischen Kapitalismus nicht gelungen ist, im Bereich der Ökonomie mehr als ein vorübergehendes und fragiles Gleichgewicht herzustellen. Und dies konnte nur erreicht werden, indem das soziale und politische Gleichgewicht zerstört wurde.«

Zudem haben die bevorstehenden Wahlen die verschiedenen linken Gruppierungen und Parteien gespalten: Einige optieren dafür, ihre Wahlapparate in Betrieb zu setzen, andere rufen zum Boykott auf.

Die Protagonisten der orthodox-revolutionären Gruppen erkennen den durch eher basisdemokratisch organisierte Strömungen vorangetriebenen »Schlag« an. »Leider sind diese anarchistischen Strömungen, die den Gedanken der Partei ablehnen, zumindest teilweise das Ergebnis einer verfehlten Politik und gescheiterten Führung von einigen wenigen, die sich ebenfalls Marxisten nennen«, rechtfertigen sich die Traditionalisten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich die sozialen Kämpfe durch neue Charakteristiken und Motivationen aus: Der Ausgebeutete wurde zum Unterdrückten, und die politischen Leitfiguren verlieren ihre Existenzberechtigung angesichts einer mobilisierten und kritischen Bevölkerung. Die gelebte Solidarität und die Kämpfe haben doktrinäre Schulungen ersetzt. »Wahrscheinlich können die Aktivisten der autonomen Bewegung zwar kein zufriedenstellendes Gesamtkonzept bieten«, erklärt ein Mitglied einer neuen undogmatischen Organisation, »aber mit Sicherheit sind sie überzeugt davon, dass man ohne zu kämpfen weder seine Rechte geltend machen noch sonst irgend etwas erreichen kann; dass Entscheidungen von allen auf den Versammlungen getroffen werden; dass man sich bilden muss, um seinen Entscheidungen ein Fundament zu geben; dass wir keine Chefs wollen, sondern Genossen.«