Das Volk ist nicht genug

Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre findet sich Globalisierungskritik zwischen Regierungspolitik, sozialer Bewegung und Mystizismus.

Die ersten Neujahrsnachrichten lasen sich wie eine Erfolgsstory. Kaum im Amt, verschiebt Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva den Kauf von zwölf Jagdbombern. Die gesparten 760 Millionen Dollar will der Politiker der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) dem Projekt »hambre cero« (»Null Hunger«) zur Verfügung stellen. Ecuadors neuer Staatschef Lucio Gutiérrez ernennt Nina Pacari vom politischen Arm der indigenen Bewegung Conaie zur Außenministerin. Der Sprecher der bolivianischen Kokabauern, Evo Morales, kündigt im Namen der Campesinos an, das Land lahm zu legen, sollte die Regierung nicht mit der Vernichtung von Kokapflanzen aufhören. In Chile verüben Mapuche-Indigenas Brandanschläge auf mehrere Lkw eines Unternehmens, das mit agroindustriellen Projekten die Lebensgrundlage der Ureinwohner zerstört.

Im südmexikanischen Chiapas besetzen indes tausende Indígenas aus autonomen zapatistischen Gemeinden vorübergehend die Provinzstadt San Cristóbal. Man werde das »Recht auf Autonomie« durchsetzen, »mit oder ohne Gesetz«, erklären die mitgereisten sieben Kommandanten und Kommandantinnen des Zapatistischen Befreiungsheers (EZLN). In zahlreichen anderen mexikanischen Bundesstaaten gehen Bauern gegen den Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (TLCAN) auf die Straße. Staatspräsident Vicente Fox gerät unter Druck. Ohne soziale Kompensation wird die letzte Stufe des mit den USA und Kanada vereinbarten Abkommens kaum mehr durchzusetzen sein.

Die Ereignisse der ersten Januartage werfen ein Licht auf den Hintergrund, vor dem Vertreter und Vertreterinnen sozialer sowie indigener Bewegungen Lateinamerikas in der kommenden Woche zum 3. Weltsozialforum (WSF) im südbrasilianischen Porto Alegre anreisen werden. Die Konfrontationen häufen sich, und in einigen Staaten des Kontinents konnten sich indigene und linke Organisationen erhebliche Machtpositionen erkämpfen.

Mit Lula kam in einem der ökonomisch stärksten Staaten der Welt der Mann einer Partei an die Macht, die wesentlich am Entstehen des WSF beteiligt war. Und mit der Außenministerin Pacari kümmert sich die Vertreterin einer Organisation um die ecuadorianischen Regierungsgeschäfte, die jüngst ein lateinamerikanisches Treffen gegen die geplante gesamtamerikanische Freihandelszone Alca in Quito organisierte.

Beinahe idealtypisch, so scheint es, hat die reale Entwicklung nachvollzogen, was die globalisierungskritische Bewegung auf den Stundenplan des WSF gesetzt hatte. Von der Kritik am »neoliberalen Kapitalismus« beim ersten Treffen im Jahr 2001 ging man im letzten Jahr zur »Formulierung von Alternativen« über. Vom 23. bis zum 28. Januar soll nun auf dem 3. WSF über die »soziale Transformation« dieser Alternativen diskutiert werden.

So zumindest sehen es die Planungen vor. Das alljährliche Spektakel der »Globalifóbicos« wird sich wieder jenseits eindeutiger Leitlinien abspielen. Dafür spricht schon seine Größe. Knapp 30 000 Delegierte von rund 5 000 Organisationen aus 121 Staaten werden erwartet, insgesamt rechnet man mit der Teilnahme von 100 000 Menschen. Auf den Programmen der Arbeitsgruppen, Konferenzen und Seminare steht so ungefähr alles: demokratische und nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte, Kultur, Militarisierung, Zivilgesellschaft, politische Mächte und so weiter.

Ebenso breit gefächert ist das Spektrum der Teilnehmer. Das trifft auch auf die lateinamerikanischen Organisationen zu. Argentinische Linksradikale werden ebenso kommen wie Vertreter des in Mexiko-Stadt regierenden sozialdemokratischen PRD oder Repräsentanten der Uno.

Die bedeutsamste internationale Initiative stellt die Alianza Social Continental (ASC) dar, ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. In einem fortwährenden Diskussionsprozess entwickelt die ASC seit 1997 einen »Alternativplan gegen die neoliberale Globalisierung«. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Kritik am TLCAN, am Alca sowie am Plan Puebla Panama, an jenem Megaprojekt, das die Staaten Zentralamerikas enger an den Weltmarkt führen soll.

Mit der tatsächlichen »Transformation« der Kritik bis ins Präsidentenamt sind in Porto Alegre entscheidende Diskussionen vorgezeichnet. Argentinische Linke fordern mit ihrer Parole »que se vayan todos«, dass alle Politiker verschwinden, und auch der EZLN verhöhnt den PRD so wie alle anderen mexikanischen Parteien.

Die kampfstarke brasilianische Landlosenorganisation MST baut indes auf ein dialektisches Verhältnis zwischen der Regierung und der Bewegung. Man müsse »unsere sozialen Kämpfe voranbringen und so Lula helfen, gegen den Druck der alten Landbesitzerklasse Reformen durchzusetzen«, erklärt Neuri Rossetto von der MST-Leitung. Doch auch der MST räumt dem PT-Politiker lediglich eine kurze Schonfrist ein.

Ähnlich stellte auch die ecuadorianische Conaie dem Staatschef Gutiérrez ein Ultimatum, um das Geld des Haushaltes zugunsten der armen Bevölkerung umzuverteilen. Gutiérrez aber ließ nie einen Zweifel daran, dass er lieber die Auslandsschulden bezahlen und auch dem Alca beitreten werde.

Auch Lula hat jenseits seiner Absage an Jagdbomber längst seine Politikfähigkeit bewiesen. So ließ er wissen, dass er die Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einhalten werde. Und während er den Alca vor der Wahl noch als »Annexion Brasiliens entsprechend den Interessen der USA« gegeißelt hatte, ließ er jüngst seinen Außenminister Celso Amorim erklären, die Gespräche über die Freihandelszone seien »wichtige geschäftliche Verhandlungen, die Zugänge zu Märkten« schaffen würden.

Solche Sätze kommen selbst bei jenen Teilnehmern des WSF schlecht an, die Hoffnungen auf den neuen brasilianischen Präsidenten setzen. Denn in einem sind sich alle globalisierungskritischen Organisationen zwischen Mexiko-Stadt, São Paolo und Santiago de Chile einig: »No al Alca« – »Nein zum Alca«. Allein in Brasilien sammelten Alca-Gegner und -Gegnerinnen eine Millionen Stimmen gegen das Abkommen.

Als Paradebeispiel für die Gefahren des zollfreien Warenverkehrs zwischen ungleichen Partnern gilt ihnen die Entwicklung in Mexiko. Seit dem Inkrafttreten des TLCAN im Jahr 1994 ist dort knapp die Hälfte der Anbauflächen des wichtigsten Nahrungsmittels Mais verschwunden. Armando Paredes Arroyo vom mexikanischen Nationalen Agrarrat (CNA) fürchtet, dass mit der zweiten Stufe des TLCAN ab 1. Januar dieses Jahres kurzfristig drei Millionen Bauern ihre Lebensgrundlage verlieren. Dass die US-amerikanische Regierung im vergangenen Jahr ihren heimischen Agrarproduzenten hohe Subventionen zusagte, hat den Unmut noch verstärkt. Wegen der billigen Importe aus dem Norden könnte die Agrarwirtschaft, von der die Mehrheit der Bevölkerung abhängig ist, zusammenbrechen. Ähnliche Entwicklungen drohen auch in anderen Wirtschaftsbereichen.

Es verwundert also wenig, dass der Kampf gegen die für 2005 geplante Freihandelszone von Alaska bis Feuerland ganz oben auf der Agenda der Latinos für Porto Alegre steht. Unterstützt durch die aggressive Außenpolitik der US-Regierung nach dem 11. September etwa im Rahmen des gegen die kolumbianische Guerilla gerichteten Plan Colombia und angesichts des bevorstehenden Irakkriegs, hat diese Konzentration das traditionelle bipolare linke Weltbild wieder einmal bestätigt: hier die geknechteten Völker des Südens, dort der US-Imperialismus, das Finanzkapital und deren jeweilige Helfershelfer in der nationalen Bourgeoisie.

Dadurch tritt nicht nur die Bedeutung europäischer Regierungen und Konzerne in den Hintergrund, die zum Beispiel beim Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft eine wesentliche Rolle spielten. Notwendige realpolitische Forderungen wie etwa Maßnahmen zum Schutz der ländlichen Ökonomie vor übermächtiger Konkurrenz werden häufig mit einer Mystifizierung der »eigenen« Kultur oder der »nationalen Identität« angereichert, die es zu verteidigen gelte. Da steht schnell die »ehrliche Arbeit« auf der heimischen Scholle dem raffenden internationalen Kapital gegenüber, Flugblätter ziert der Zylinder tragende US-amerikanische Kapitalist, der mit Dollars und Waffen die Völker der Welt unterdrückt. Ganz abgesehen von den Gefahren solcher Positionen haben solche Meta-Analysen mit den realen Diskursen etwa in der indigenen Bevölkerung wenig zu tun.

Dass in Porto Alegre über die Ambivalenzen und Risiken des Bezugs auf einen Volksbegriff und teilweise reaktionäre Traditionen indigener »Völker« diskutiert wird, ist nicht abzusehen. Bislang jedenfalls steht die Konstruktion völkischer Identitäten noch hoch im Kurs, die eine »eigenständige« kulturelle und soziale Entwicklung gegen die langjährige Unterdrückung durch dominante Gesellschaften ermöglichen soll.

Dabei hat sich jüngst ausgerechnet die EZLN, die sich mit solchen Widersprüchen intensiv auseinandersetzen muss, unangenehme Freundschaften eingehandelt. Zusammen mit weiteren Abgeordneten des italienischen Parlaments unterstützten die Vertreter der rechtsextremen Lega Nord die Autonomieforderung der Zapatisten.

Die baskische Eta hingegen bescheinigte dem EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos »mangelnden Respekt gegenüber dem baskischen Volk«. Niemals habe man anderen Völkern vorschreiben wollen, wie sie zu kämpfen haben, reagierte die Eta auf einen Vorschlag des »Sub«, Gespräche mit der spanischen Regierung zur Lösung des baskischen Problems zu führen.

Internationalismus könnte auch anders aussehen. Gründe, sich auf einem Treffen wie dem WSF in die Angelegenheiten anderer »Völker« einzumischen und die Gefahren kulturalistischer und nationalistischer Politik zu diskutieren, gäbe es jedenfalls genug.