Lenin geht shoppen

Ein neuer Kunstführer widmet sich den Skulpturen im öffentlichen Raum Berlins. von philipp steglich

Berlin ist reich an Kunstwerken und Denkmälern. Zum Beispiel gibt es zuhauf trocken gelegte Brunnen, die von den Haushaltssorgen des Senats zeugen. Für ihren Betrieb ist kein Geld da. In all der sinnfälligen Dürre der öffentlichen Plätze sticht das Areal des Potsdamer Platzes deutlich heraus. Das Grundstück wurde nach dem Mauerfall von der Stadt Berlin zum Schnäppchenpreis den Konzernen Daimler-Benz und Sony überlassen. Weil die dort entstandene Architektur nicht gerade spannend ausgefallen ist und die Erwartungen eher enttäuschte, brauchte es ein wenig Glamour.

So bürgen nun neuere Kunstwerke, darunter vor allem viele Skulpturen, für die finanzielle und kreative Potenz ihrer Auftraggeber und Stifter. Die Corporate Identity der ansässigen Firmen soll damit kunstvoll ergänzt werden. Die Werke von Jeff Koons, Robert Rauschenberg und Keith Haring künden von Weltoffenheit und der Kompetenz Berlins, sich mit den Metropolen in den anderen westlichen Ländern der Erde messen zu können. Die ehemalige Frontstadt hat nun ein zeitgemäßes Schaufenster. Dass hier in besonderem Maße amerikanische Künstler zum Zuge kamen, liegt in deren hoher Anerkennung auf dem internationalen Kunstmarkt begründet. Nichts anderes ist der Grund für ihre starke Präsenz an diesem Ort. Und ein anderer wäre auch dem Publikum aus Touristen und den Stadtbewohnern, die ihren Besuch bereitwillig dorthin führen, wohl nicht so leicht vermittelbar.

Der Ort erzählt aber auch von der Macht der Zivilisierung durch den Kapitalismus. Immerhin ist einer der zentralen Plätze nach der ebenso entschiedenen wie (im Ausland) populären Antifaschistin Marlene Dietrich benannt. In West-Berlin war es schlicht unmöglich, und langjährige Debatten geben hiervon ein schmähliches Zeugnis, einen öffentlichen Ort nach der gebürtigen Schönebergerin zu benennen. Das geht erst jetzt am Potsdamer Platz.

Wie sehr die wahllos wirkende Aufstellung der Kunstwerke auf dem Areal als »skulpturale Findlinge« diesen die Möglichkeit künstlerischer Entfaltung nimmt, stellt der gerade erschienene und reich bebilderte Band »Kunst in der Stadt – Skulpturen in Berlin« dar.

Die Kunsthistoriker Hans Dickel und Uwe Fleckner haben gemeinsam mit Studenten der Freien Universität Berlin 66 Kunstwerke oder künstlerisch gestaltete Gedächtnisorte beschrieben. Der einleitende Aufsatz widmet sich ausführlich dem Problem der Kunst im öffentlichen Raum der Gegenwart, die oft auf eine dekorative oder repräsentative Funktion beschränkt bleibt.

Die Kunst hat sich gewandelt und wird verstärkt von den Aufträgen privater Stifter und Firmen bestimmt. Die unbedingte Individualität des Künstlers, die in den Kunstwerken zum Ausdruck kommt, steht im krassen Gegensatz zur Anonymität des Massenkonsumenten, der am Potsdamer Platz die Filialen der Ketten Nordsee, Hugendubel und H&M frequentiert.

Die Flucht in den Massenkonsum wird im Kunstführer auch an einem Beispiel aus der Vergangenheit verhandelt. Das der propagandistischen Monumentalität verpflichtete und mittlerweile abgerissene Lenindenkmal wurde 1990, als es noch auf dem gleichnamigen Platz in Ost-Berlin stand (heute Friedensplatz), Teil einer temporären Installation.

Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko projizierte auf die granitene Figur Lenins ein Farbdia. Die Statue zeigte sich für einige Zeit in einem rot-weiß gestreiften Pullover, einen Einkaufswagen vor sich schiebend, der mit einer prallen Alditüte und einem preiswerten Videorekorder gefüllt war. In dieser Installation folgte selbst der Held der russischen Revolution den Glücksversprechen des Kapitalismus, die westlichen Warenlager zu räumen.

Diese finden manchmal Aufnahme in ehemaligen Stätten der Produktion. Die Tegeler »Hallen am Borsigturm«, in denen früher Lokomotiven hergestellt wurden, verwandelten sich in ein Einkaufsparadies innerhalb geschützter Denkmalsarchitektur. »Die Fabriken alle sind zuschanden. / Das Proletariat ist einverstanden«, reimte Peter Hacks diese Übereinkunft der letzten Konterrevolution.

Im Gegensatz zu den privat organisierten Stätten des Konsums, an denen die einzige geltende historische Kategorie die der Mode ist, ist der Bebelplatz noch ein öffentlicher städtischer Raum. Im Stadtzentrum gelegen, beherbergt er eines der unscheinbarsten Denkmäler der Stadt. Nur nachts findet man es auf Anhieb, dann stößt man in der Mitte des Kopfsteinplatzes auf eine ebenerdige Glasplatte, die den Blick auf einen hell erleuchteten Raum freigibt, der sich in die Tiefe öffnet. In ihm sind lediglich weiße, leere Wandregale zu sehen.

Das vom in Tel Aviv geborenen Künstler Micha Ullman gestaltete Mahnmal »Bibliothek« von 1994 erinnert an die nationalsozialistische Bücherverbrennung, die am 10. Mai 1933 an diesem Ort stattfand. Unter Goebbels’ Anleitung entsorgten hier nationalsozialistische Professoren und Studenten und ihre Sympathisanten Bücher, die sie für »artfremd« und »undeutsch« hielten. An die 20 000 Schriften hatten sie aus den Bibliotheken entfernt und warfen sie hier auf den Scheiterhaufen.

Ullmans öde Buchregale in einem leeren Raum zitieren die entstandene Leere und verweisen auf die mörderischen Konsequenzen des nationalsozialistischen Terrors. Das matte Licht, das nachts die »Bibliothek« markiert, steht für das Feuer. Nur dass sich jetzt keine Flamme regt. So ist dieses Denkmal wohl eines der gelungensten Beispiele für die künstlerische Gestaltung der Erinnerung an ein historisches Ereignis.

Es bleibt nicht zuletzt ein Verdienst des Buches »Kunst in der Stadt«, auf viele unscheinbare, manchmal auch gar nicht als solche identifizierbare Kunstwerke im weitläufigen Stadtraum Berlins aufmerksam zu machen. Schließlich sind nicht alle wie im Museum mit den entsprechenden Schildchen als solche gekennzeichnet.

Der Band liefert zu jedem Werk eine Beschreibung seiner äußeren Gestalt, des Sichtbaren, doch wohl nicht jedem Betrachter Offenkundigen. darüber hinaus wird die historische Situation seiner Entstehung, beginnend mit der Auftragsvergabe, erzählt. Diese seltene Gründlichkeit überrascht und erfreut zugleich.

Dabei wird die künstlerische Rezeptionsgeschichte mit der politischen verschränkt, auch das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn gerade Ost-Berlin wurde im Bildersturm nach 1990 weitgehend gesäubert. So geht dieser Band weit über eine Bestandsaufnahme hinaus, er dokumentiert sogar nie realisierte Entwürfe.

Um die beschriebenen Kunstwerke aufzusuchen, braucht man noch nicht einmal einen Stadtplan, denn in den Seitenklappen des Buchumschlags findet sich ein detaillierter Lageplan der interessanten Stätten.

Hans Dickel, Uwe Fleckner (Hg.): Kunst in der Stadt – Skulpturen in Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2003, 216 Seiten, 19,90 Euro.