Mein Gott, Walter!

Wie die Anthologie »Öde Orte« von einem Sprachschützer verhackstückt wurde. von rené martens

Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ist ein Gremium, dessen Existenzberechtigung keineswegs in Zweifel zu ziehen ist, denn bei der letzten Sitzung im Dezember erhielt mal wieder die Bild-Zeitung zwei hoch verdiente Rügen – zum einen, weil sie im Zuge eines Beitrags über den Selbstmord eines Ingenieurs den Vornamen, den abgekürzten Nachnamen und die Arbeitsstätte des Toten erwähnt und über sein Motiv spekuliert hatte, zum anderen, weil in einem Artikel über die Ermordung eines Kindes »der vermutlich schuldunfähige Verdächtige« als »Killer« und »Schwein« tituliert wurde.

Manchmal wird der Beschwerdeausschuss aber auch mit höchst seltsamen Anliegen konfrontriert, und das ist nun auch am 18. Februar der Fall, wenn sich die Runde das nächste Mal trifft. Es beschweren sich ein in Dortmund lehrender Statistikprofessor und Vielveröffentlicher namens Walter Krämer, und der Anlass seines Anliegens ist ein Artikel, den die taz am 26. Oktober seiner letzten, gemeinsam mit seiner Tochter herausgegebenen Drucksache »Lexikon der Städtebeschimpfungen« widmete.

Der Autor Michael Ringel weist der kleinen Familienbande hier mit detektivischem Eifer Stockfehler, Nickligkeiten und Urheberrechtshooliganismus nach, insbesondere, was den Umgang mit den Anthologien »Öde Orte 1 & 2« betrifft, die bereits 1998 und 1999 von den beiden Herausgebern Jürgen Roth und Rayk Wieland im Reclam-Verlag veröffentlicht wurden und die mehrere Jungle World-Autoren mitverfasst haben.

Krämer & Krämer zitieren in ihrem Buch aus 33 dieser Texte, verzichten dabei aber, abgesehen vom Namen der Autoren, auf eine Quellenangabe. Befremdet zeigt sich Ringel auch, dass einige andere Zitate, die sich das Sammlerpärchen mutmaßlich durch »fleißiges Googeln« verschafft hatte, mit der zugegebenermaßen nicht unoriginellen Quellenangabe »aus dem Internet« versehen waren.

Ringels »Exkrement«, wie Papa Krämer es später ganz unakademisch nennen sollte, zeitigte eine durchaus positive Wirkung, denn der Eichborn Verlag, der das Buch verlegt hatte, gab schnell zu, im Eifer des Produktionsgefechts einen kapitalen Bock geschossen zu haben, überwies Honorare an die Autoren von »Öde Orte« und einigte sich auch mit den Verlagen Hoffmann & Campe und Suhrkamp, die überrascht bis entsetzt waren, im gebundenen Papierstapel des eingespielten Duos Textauszüge ihrer Autoren zu finden.

Die Krämerseele aus Dortmund indes zeigte sich uneinsichtig und brachte nicht nur den Presserat ins Spiel, sondern auch mittels einstweiliger Verfügung eine strafbewehrte Unterlassungserklärung auf den Weg. Besonders die Behauptung, sein Lexikon sei ein »astreines Plagiat«, will Krämer nicht mehr verbreitet sehen. Die taz hat Widerspruch eingelegt, und so wird es demnächst zum Prozess vor dem Berliner Landgericht kommen. Der Streitwert liegt bei 9 000 Euro.

Dass juristische Feldzüge, die aus unliebsamen Presseartikeln resultieren, bizarre Ausmaße annehmen können, ist seit den Diskussionen um das, was bei Schröder oben drauf ist, eine Binsenweisheit. Aber sogar angesichts dessen ist die Causa Krämer noch eine besondere. Obwohl der Professor, der äußerlich wie eine Mischung aus Waldemar Hartmann und einem ideellen Gesamthardrocker der frühen siebziger Jahre wirkt, auch am Dortmunder Institut für Journalistik lehrt, weiß er nicht, wie Gegendarstellungen abzufassen sind. Er probiert es aber trotzdem.

So geriet der erste Versuch, bei der taz zu intervenieren, zu einer recht jämmerlichen Übung. Immerhin enthielt diese schon die später von seinen Anwälten aus der Juristenhochburg Gera noch etwas näher erläuterte Kernthese: »Seit Mitte der neunziger Jahre, d.h. lange vor Erscheinen der ›Öden Orte‹«, habe seinem Verlag die Idee zu dem Lexikon bereits vorgelegen. Krämers nicht unamüsante Schlussfolgerung: »Wenn also überhaupt irgend jemand von irgend jemandem eine Buchidee gestohlen hat, dann die Herausgeber der ›Öden Orte‹ von mir.«

In einem Interview mit einem Dortmunder Online-Magazin strickt er diesen eigenwilligen Gedankengang noch weiter: »Der Vorwurf, mein Buch wäre von den ›Öden Orten‹ abgekupfert, ist unhaltbar. Die Idee dazu gab es schon, als diese Leute noch gar nicht geboren waren.« Literaturwissenschaftlich gesehen, macht Krämer damit ein ziemlich großes Fass auf, eines ohne Boden möglicherweise. »Ulysses« stammt von einem James Joyce? Ha, wer weiß das schon, vielleicht kursierte die Idee zu dem Buch bereits Jahre vorher. Ja, womöglich sogar schon, als dieser Joyce noch nicht geboren war.

Wenn der streitlustige Prof nicht lehrt oder an Büchern bastelt – »weit über 20« (Krämer) haben die Geistesgeschichte schon bereichert –, frönt er dem Vereinsleben. Er sitzt dem Verein Deutsche Sprache e.V. vor, der der »unkritischen Verwendung von Anglizismen« den Kampf angesagt hat (weshalb ihr Boss zum Beispiel »E-Post« statt »E-Mail« sagt). Die Viel-Deutsch-viel-gut-Clique (»Wir sind amerikakritisch, aber nicht antiamerikanisch«) hat viel übrig für die Unterdrückten dieses Landes: »Wir wehren uns gegen die sprachliche Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen, die wegen unzureichender Kenntnis der englischen Sprache den Sprachmix in Werbung, Warenauszeichnung und den Medien nicht mehr verstehen.« Gerade hat Krämers amerikakritischer Klub die »VPS-Anglizismen-Liste 2003« herausgebracht, ein Werk, das dem »Lexikon der Städtebeschimpfungen« in seiner Bedeutung wenig nachsteht.

Was Krämers Walter für einer ist, wird besonders deutlich, wenn er sich zu den vermeintlichen Motiven für den Veriss seines vermeintlichen Lexikons äußert. Seine »immer wieder flächendeckend unters Volk gebrachte wirtschaftsliberale Grundeinstellung« sei der taz »und ihren Gesinnungsfreunden seit jeher ein Dorn im Auge«. Das gelte auch, wie er in einem Gespräch mit dem Dortmunder Studentenblattt InDOpendent ausführt, für »seine Meinung zum Beispiel zu Studiengebühren, zum Mieterschutz oder zum Gesundheitswesen«. Sein »Lexikon der populären Irrtümer« und »ein Buch über Armut« seien aus denselben »durchsichtigen Motiven verrissen« worden.

Eine annähernd repräsentative Umfrage unter Kollegen ergab zwar, dass Walter Krämers wirtschaftsliberale Thesen für ähnlich viel Aufmerksamkeit sorgten wie seine Forschungen zum Paarungsverhalten des Haubentauchers, aber das kann nur daran liegen, dass diese Menschen weder Spiegel noch Zeit noch stern noch Welt lesen. Überall dort hat sich Walter Krämer nämlich schon wirtschaftsliberal geäußert, und zwar »in Dutzenden von Artikeln«.

Halten wir an dieser Stelle inne und fassen, bibbernd vor Respekt, kurz zusammen: Krämer kennt sich aus mit Statistik, der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen, der Armut, dem Mieterschutz, beschimpfenswerten Städten und populären Irrtümern, und das Bedrohungspotenzial für die deutsche Sprache weiß wohl kaum einer besser einzuschätzen als er. Bestürzend, dass es der liberale Denker und Zitatenjäger bisher versäumt hat, die Welt an seinem umfänglichen Wissen über alle anderen kniffligen Fragen teilhaben zu lassen. Haut es noch hin mit einer Einigung zwischen den USA und dem Irak? Ist Lothar Matthäus sexsüchtig? Und wo bleibt eigentlich die sehnlichst erwartete Abhandlung zum Gesamtwerk Judith Butlers?

Mein Gott, Walter, mach hin! Natürlich wissen wir nicht, ob der Presserat Humor hat, aber wir wünschen dieser Institution, dass Walter Krämer sie auf den richtigen Weg bringt.