Die Mechaniken des Blicks

VALIE EXPORT hat die Medienkunst miterfunden und geprägt. von ines kappert

Eine Frau hat sich einen Pappkarton vor die nackte Brust geschnallt. Die Vorderseite der Schachtel ist offen, aber mit einer Art Stoffvorhang versehen. »Tapp und Tastkino« hat VALIE EXPORT ihre Performance genannt. Eine Videokamera hält 1968 in München fest, wie v.a. Männer die Gelegenheit nutzen, um hineinzugreifen ins »volle Leben«, wie die Zeitungen später schreiben. Dieses Videostill, das wohl zu den berühmtesten Arbeiten der Künstlerin zählt, zeigt Frau und Mann im intensiven Augenkontakt. Was die männlichen Hände im Pappkarton tun, entzieht sich dem neugierigen Blick. Die weibliche rechte Hand umfasst eine Uhr. Die Regeln der Peepshow sind Männern wie Frauen bekannt und werden beidseitig akzeptiert. Neu ist, dass das in der Fußgängerzone stattfindet und Kunst sein soll.

So beherrscht Uneindeutigkeit die Szenerie. Der Gesichtsausdruck der Frau wie der des begehrenden Mannes sind jeweils vieldeutig. Es schwingt Schüchternheit und Provokation auf beiden Seiten mit. Etwa im Sinne von: Das wollen wir doch mal sehen. Die Frau provoziert unter vollem körperlichen Einsatz; der Mann streckt nur seine Hände aus. Ihr verhaltenes, doch freundliches Lächeln und ihr aufmerksamer Blick spiegeln das Bewusstsein von Grenzüberschreitung und Verletzlichkeit.

Beim zugreifenden Mann meint man neben Begehren ein wenig traurige Sehnsucht ausmachen zu können. Aber zufassen muss er offenbar. »Männer sind so«, erklärt der Volksmund, und die Schriftstellerin Marlene Steeruwitz kommentiert sarkastisch: »In der fundamentalistischen Konstruktion immer verführbarer Männlichkeit und immer verführerischer Weiblichkeit war der Griff des Mannes hinter den Vorhang in das Tapp und Tastkino unumgänglich. Im Nachweis seiner Heterosexualität zwängliches Recht. Das Kalkül VALIE EXPORTS stimmte.«

Das Spiel mit gesellschaftlichen Kalkülen, mit kulturell verbrieften Blickordnungen und medial vermittelten Botschaften bildet die Grundlage von VALIE EXPORTS Arbeiten. In einem 1990 verfassten Manifest erklärt sie, ihr Ziel sei es, mediale Konstruktionen von Wirklichkeit zu hinterfragen und eingeschliffene Repräsentationsmuster in ihrer strukturellen Gewalt sichtbar zu machen. Und zwar durch Dekontextualisierungen. Bekanntes wird in einen fremden Zusammenhang gestellt, Strukturen werden sichtbar gemacht und zu etwas Neuem überformt. Das Manifest trägt den Titel »Mediale Anagramme«.

1967 tauschte die Künstlerin ihren Vor- und Zunamen gegen ein Label in Großbuchstaben ein: VALIE EXPORT. Diese Aktion möchte sie als feministische Kritik an patriarchal-kapitalistischen Zuschreibungspraktiken verstanden wissen. Bevor ein Eigenname die individuelle Einspeisung ins Marktgeschehen verdecke, werde er besser durch ein Logo ersetzt. 35 Jahre später zeigt das »Realismus Studio« VALIE EXPORTS Arbeiten erstmals in einer repräsentativen Ausstellung in Berlin. Den Plan hierfür hatte die Ausstellungsgruppe der Neuen Galerie für Bildende Kunst (NGBK) bereits vor fünf Jahren gefasst. Aber erst jetzt konnte das nötige Geld akquiriert (Hauptstadtkulturfonds) und die Akademie der Künste als Kooperationspartnerin gewonnen werden.

Die Ausstellung ist mit »Mediale Anagramme« betitelt, orientiert sich damit programmatisch am Manifest von 1967 und ist in sechs Themenfelder, so genannte »Arenen« gegliedert. Die Wände bleiben weitgehend frei. Die Räume werden durch mittelgraue Stellwände, auf denen die Arbeiten aufgezogen sind, strukturiert. Man habe versucht, so erklärt eine der drei AusstellungsmacherInnen, Hiltrud Ebert, durch die Anordnung der Stellwände Schneisen durch die Arenen zu legen, die den Blick auf die jeweils nächste Sektion und damit auf andere Arbeiten und Formsprachen freigeben. Das Konzept geht auf.

Es wiederholt durch die räumliche Anordnung der Arbeiten unaufdringlich die dekonstruktive Praxis der Künstlerin: »Meine experimentellen medialen Arbeiten, Film, Video und digitale Fotografie, sind Notizbücher, in denen immer wieder die ›Seiten‹, Aufzeichnungen, Bilder, in anderen Zusammenhängen gebracht werden und neue Bedeutungen einen neuen Kontext ermöglichen.«

Aber nicht nur die Dekontextualisierung von Bildern und Blickgewohnheiten bestimmt die Ausstellung, sondern auch die Akustik. So sind die Schreie der dezent in den Hintergrund gerückten Arbeit »Violation – Schnitte« von 1995 bis 2000, die die Beschneidung eines afrikanischen Mädchens dokumentiert, fast überall hörbar. Auch bei der Betrachtung lustvoller, humorvoller und selbstironischer Arbeiten wie der Photoserie »Genitalpanik« von 1968, bleiben sie im Ohr.

Wo der Spaß Spaß macht, hört Gewalt nicht auf. Zweifellos ist das Springen zwischen den Kulturen eklektizistisch und die Identifikation westlicher Geschlechterproblematik mit Beschneidungsriten unzulässig. Dennoch bebildert die Vernähung der Scheide aus weiblich-westlicher Perspektive einen unvorstellbaren Hass auf das feminine Geschlecht und wird dadurch zu einer Art Angstsymbol. Und mit diesem Umstand spielt die Ausstellung.

Das Vernähen von frisch geschnittenen Wunden, die Erziehung des Blicks durch die Montage, letztlich durch die Technik des Videobildes, ist auch das Thema einer der größten Installationen der Ausstellung: »Die un-endliche/-ähnliche Melodie der Stränge« von 1998. Auf 25 Monitoren stechen Nähmaschinennadeln auf und nieder. Es gibt keinen Faden, keinen Stoff, nur die maschinisierte Bewegung, gerahmt durch den Bildschirm.

Die Anzahl der Bildschirme, so erklärt es die Bildtafel, entspricht der Anzahl der Bilder, die für eine Videoaufzeichnung benötigt werden, um ein sekundenlanges bewegtes Bild wahrnehmen zu können. 25 bildschirmfüllende Nähnadeln tun leicht zeitversetzt ihre Arbeit.

Die Künstlerin verweist hier auf das für das Kinoerlebnis grundlegende Prinzip der »suture«. Wörtlich bedeutet »suture« das Zunähen von Wunden. Die Filmwissenschaft verwendet es, um den Vorgang zu beschreiben, den jede KinobesucherIn zu bewältigen hat, eine Verbindung zwischen sich und dem gesehenen Bild herzustellen. Gemeinhin bindet man sich durch Identifikation und Projektion in das gesehene Bildgeschehen ein und bildet so mit ihm eine temporäre Einheit. Diese für das Verständnis der Bilder notwendige Einlassung zeigt VALIE EXPORT in ihrer kühl berechneten Mechanik, der sie einen eigenen sexuellen Subtext beifügt.

Natürlich erzählen die rhythmisch niedersausenden Nadeln etwas von Penetration, doch gleichzeitig sind Nähmaschinen im Alltagsverstand ein Frauending. Genau dadurch aber, dass eine idealiter von Frauenhand bediente Maschine seelenlos penetriert, wird die Ordnung der Geschlechterdifferenz noch in der Exponierung ihrer technischen Reproduzierbarkeit unterlaufen.

Die Technik der Schnitte und Vernähungen, der Dekontextualisierung als die grundlegend paradoxe Technik der medialen Bildproduktion, die Körper parzelliert und zu Projektionsflächen zusammenbastelt, wird hier auffälligerweise unter Abwesenheit von Körperbildern erzählt. Kein über den Körper lancierter Authentizitätseffekt mehr, sondern ein ästhetisch bestechendes Aufzeigen von Mechanismen und Seh(n)süchten der Bilder und ihrer BetrachterInnen. Für sie immer wieder neue Formensprachen zu finden, ist die Kunst VALIE EXPORTS seit über 30 Jahren.

VALIE EXPORT: Mediale Anagramme. Akademie der Künste, Berlin. Bis 9. März