Für Koka und mehr

Straßenblockaden und Proteste haben die bolivianische Regierung gezwungen, über die sozialen Forderungen der Opposition zu verhandeln. von simón ramírez voltaire

Rio Revuelto, aufgewühlter Fluss, nennt man in Bolivien eine Situation, in der das Durcheinander herrscht. Nach einem recht ruhigen ersten halben Jahr der Präsidentschaft von Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada sind in Bolivien die Konflikte zwischen der Regierung einerseits und den Kokaleros, den Koka-Pflanzern, und den Hochlandbauern andererseits wieder entflammt. Das ganze Land ist in Aufruhr, im Januar starben bei Auseinandersetzungen mit staatlichen Truppen 20 Bauern, es gab hunderte Verletzte und fast 1 000 Festnahmen.

Die vielfältigen oppositionellen Bewegungen versuchen, ihre Kräfte in einem Estado Mayor del pueblo boliviano (Generalstab des bolivianischen Volkes) zu bündeln. Am 13. Januar rief der Oppositionsführer im Parlament und Kopf der Kokalero-Bewegung, Evo Morales (Jungle World, 33/02) vom Mas (Bewegung zum Sozialismus), zu zahlreichen Straßenblockaden auf, weil die Regierung auf keine seiner Forderungen eingegangen war. Mit Protesten im ganzen Land wurde daraufhin die Regierung in einem Klima der Rebellion zu bedingungslosen Verhandlungen gezwungen.

»Sie sollen sich schon mal mit Trockennahrung eindecken, denn wir können monatelang mit den Blockaden leben«, sagte Felipe Quispe, Präsident der Einzigen Gewerkschaftlichen Konföderation der Landarbeiter Boliviens (CSTUCB) und Abgeordneter für die Indigenapartei MIP, der Tageszeitung Los Tiempos. Kurz zuvor erklärten Morales und Quispe, die beiden bedeutendsten Persönlichkeiten der Oppositionsbewegung, ihre Rivalität für beendet und umarmten sich mit einer fast übertriebenen Geste vor den Kameras.

Quispe war zuvor dem von Morales gegründeten Estado Mayor beigetreten, der die Regierung zu Verhandlungen aufforderte. Ihm gehören außerdem VertreterInnen nationaler und regionaler Gewerkschaften, der Kreditnehmervereinigung und des Bäuerinnenverbandes an.

Seither wird die wichtigste Straße für die bolivianische Wirtschaft, die Verbindung zwischen Cochabamba und Santa Cruz, trotz der Präsenz des Militärs stundenlang blockiert. Das Zentrum der Zusammenstöße ist die zentral gelegene, Koka produzierende Region Chaparé. Die aufgebrachten Bauern schaffen es trotz großer geografischer Entfernungen und ideologischer Unterschiede ihrer Organisationen, dass das Chaos immer wieder in gemeinsame Aktionen mündet.

Wegen der Blockaden in Oruro, Potosí, La Paz, Los Yungas, Santa Cruz und Chuquisaca sind nahezu alle Teile des Landes von den Protesten betroffen. Wie schon mehrfach während der letzten drei Jahre bewährt sich der Eingriff in die Zirkulation als Mittel, die Regierung in Bedrängnis zu bringen. Riesige Felsbrocken werden auf die Straßen gerollt, Gerölllawinen ausgelöst, Brücken gesprengt, Nägel auf die Fahrbahn gestreut und vorbeifahrende Reisebusse mit Steinen beworfen. Menschenrechtler verurteilten das brutale Vorgehen des Militärs gegen die Blockierer und die willkürlichen Festnahmen.

Die Proteste beschränken sich nicht mehr auf einige Regionen und auf die Koka-Problematik. Die Mitglieder des Estado Mayor repräsentieren einen Großteil der Bevölkerung, die zu 83 Prozent in Armut lebt. Sie fordern zwar nach wie vor den Stopp der Vernichtung der Kokaplantagen und die Legalisierung von 1 600 Quadratmetern Anbaufläche für jede der 40 000 Familien in der Region Chaparé sowie Traktoren für die Hochlandbauern und Land für die Landlosen.

Seit die linken Parteien bei den Wahlen im Juli mehr als 25 Prozent der Sitze im Palament errangen und Morales nur knapp gegen Sánchez de Lozada unterlag, erheben sie aber auch weiter gehende wirtschaftspolitische Forderungen. Sie verlangen den Rückzug Boliviens aus den Verhandlungen über eine gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) unter der Dominanz der USA und wollen den Verkauf der Gasvorkommen an transnationale Unternehmen verhindern.

Ganz oben auf der Liste des Estado Mayor steht die Forderung nach der Wiederverstaatlichung der in den neunziger Jahren sanierten und dann privatisierten Unternehmen der Energie-, Telekommunikations- und Ölwirtschaft. Ebenso gehören sozialstaatliche Maßnahmen in den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Erziehung zu den 15 Punkten des vom Estado Mayor aufgestellten Forderungskatalogs, der die neoliberale Politik für gescheitert erklärt.

Präsident Sánchez de Lozada von der rechtsliberalen Nationalistisch-Revolutionären Bewegung (MNR), der von 1993 bis 1997 schon einmal an der Macht war und mit vielen Privatisierungen die neoliberale Doktrin in Bolivien praktizierte, steht unter enormem Druck. Wegen der kombinierten parlamentarischen und sozialen Kämpfe der Opposition ist er praktisch regierungsunfähig, und nun setzen ihm auch noch die USA zu. Der neue US-Botschafter in Bolivien, David N. Greenlee, ließ keinen Zweifel an der Drogenpolitik seines Landes: »In Bezug auf unsere Politik habe ich nichts zu sagen außer dem, was sowieso bekannt ist. Es gibt keine Veränderung in unserer Politik.« Die USA bestehen darauf, dass die Kokaplantagen vernichtet werden müssen.

Beistand in dieser Frage erhielt Sánchez de Lozada auch vom Exekutivdirektor der Drogenkontroll- und Verbrechensverhütungsbehörde der Vereinten Nationen, Antonio María Costa, der gerade in Bolivien eintraf, um sich ein Bild von der Situation zu machen. »Eine Wirtschaft, die auf dem Anbau illegaler Pflanzen basiert, verstößt gegen nationales Recht und die internationalen Verträge und ist untragbar«, sagte er der Tageszeitung La Razon. Selbst eine Verzögerung der Vernichtung der Kokaplantagen, und sei es, um Raum für Verhandlungen zu schaffen, wertet er als Verstoß gegen die internationale Konvention.

Am Samstag war nach den Vermittlungen einer parlamentarischen Kommission die Regierung dennoch zu weiteren Verhandlungen bereit. Auch Morales will mit einer Delegation daran teilnehmen und erklärte, es gebe »positive Zeichen für eine Lösung«. Zuvor hatte er sich geweigert, Gespräche mit dem Präsidenten hinter verschlossenen Türen zu führen. »Es handelt sich hier um soziale und ökonomische Forderungen aller Schichten, weswegen ich ein Treffen Goni-Evo nicht akzeptieren kann«. Zu den Verhandlungen wurden neben den Konfliktparteien auch Vertreter der Kirchen und einiger Menschenrechtsorganisationen eingeladen.

Zudem sickerten Gerüchte durch, nach denen es für die Vertreter der Opposition am wichtigsten sei, dass die Regierung Zugeständnisse beim Thema FTAA und bei der Privatisierung der Gasvorkommen macht. Nach der Ankündigung einer neuen Verhandlungsrunde klangen die Proteste am Samstag im ganzen Land ab. Quispe gab bekannt, dass die für den 30. Januar geplanten Blockaden im Hochland ausgesetzt werden, er will nun die Ergebnisse der Gespräche abwarten.

Nur im abgelegenen südöstlichen Chuquisaca scheinen die Rebellen einen eigenen Rhythmus zu haben. Dort, so wird es berichtet, seien die Proteste so stark wie nie zuvor.