Der alte Mann und die Mär

Yassir Arafat soll seine Macht teilen. Doch er will nicht, und nur Israel kann dem soeben ernannten Premierminister Abu Mazen eine Chance geben. von michael borgstede, tel aviv

Der alte Mann mit der zitternden Oberlippe war wütend. Er richtete eine Pistole auf sein Gegenüber und brüllte mit sich überschlagender Stimme: »Er will meinen Platz einnehmen und mich verdrängen!« Dann soll Palästinenserpräsident Yassir Arafat dem damaligen Sicherheitschef des Westjordanlandes, Jibril Rajoub, eine Ohrfeige verpasst haben. Von Rajoub, der bis dahin als hoffnungsvoller Kandidat für die Nachfolge Arafats galt und bis zu seiner Entlassung regelmäßig Terroristen hinter Gitter brachte, ward seitdem nicht mehr viel gehört. Das war im Februar 2002.

Einige Monate später, als Arafat, von israelischen Panzern umzingelt, in seiner Mukata in Ramallah festsaß, präsentierten die Führer seiner Fatah-Partei ihm eine Liste mit Reformforderungen, darunter die Ernennung eines Premierministers. Arafat witterte Revolution, gab scheinbar nach und besetzte doch alle Positionen mit ihm treu ergebenen Jasagern. Einige der kritischen Reformer in der Palästinenserbehörde flüchteten besorgt kurzzeitig außer Landes. Mohammed Dahlan, den Arafat gerade als Sicherheitschef des Gazastreifens entlassen hatte, verschwand in Europa, der Parlamentspräsident Abu Ala unterzog sich einer Herzoperation in Jordanien, und auf das Haus von Achmed Abbas (auch Abu Mazen genannt) wurden Schüsse abgefeuert.

Jetzt hat Arafat dem zunehmenden internationalen und internen Druck nachgeben müssen und jenen Abu Mazen zu seinem Kandidaten für das Amt des Premierministers gemacht. Der Legislativrat, das palästinensische Parlament, bestätigte Arafats Entscheidung am Montag der vergangenen Woche und beschloss die notwendigen Gesetzesänderungen.

Schon seit langem schwelt in den Palästinensergebieten die Unzufriedenheit mit Arafat und seiner korrupten und autoritären Regierung. Allerdings wollte niemand dem Erzfeind Israel das Wort reden. Bisher galt in den palästinensischen Gebieten: »Solange Israel auf Arafats Auswechselung besteht, bestehen wir darauf, dass er bleibt.« Doch auf der Straße wie auch im machtlos dahinsiechenden Parlament haben sich in den vergangenen zwei Jahren die Zweifel an der Weisheit des bewaffneten Widerstandes gegen die Besetzung und der Unmut über Arafats sich selbst bereichernde Schützlinge verstärkt.

Einflussreiche Kräfte in der Fatah sehen mit Besorgnis, wie insbesondere im Gazastreifen die islamistische Hamas an Einfluss gewinnt. Sie hat in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens soziale Funktionen übernommen, bei denen Arafats Behörde immer versagt hat. In Hamas-Kindergärten werden kostenlose Mahlzeiten verteilt, und die verbliebenen Obdachlosen nach israelischen Hauszerstörungen werden von Angehörigen der Hamas mit neuen Quartieren versorgt.

Mit der Hamas aber, das haben die gescheiterten Kairoer Gespräche über einen möglichen Waffenstillstand aller palästinensischen Gruppierungen wieder einmal gezeigt, lässt sich nicht verhandeln. Einer ihrer Abgeordneten meinte dort: »Wir sind hierher gekommen, um unsere palästinensischen Brüder davon zu überzeugen, dass unser Weg der richtige ist.« Und dieser Weg besteht im »bewaffneten Widerstand gegen den zionistischen Besatzer in ganz Palästina«. Im Klartext: brutale Terroranschläge auch in Tel Aviv und Haifa.

Der Unterschied zu Abu Mazen könnte kaum größer sein. Der PLO-Veteran gilt als Taube in der Palästinenserführung und hat wiederholt dazu aufgerufen, die bewaffnete Intifada zu beenden und zum gewaltlosen Widerstand überzugehen, um den Weg für eine Verhandlungslösung des Konfliktes zu ebnen. Ob seine Kompetenzen dazu ausreichen werden, ist zweifelhaft.

Erwartungsgemäß hat Arafat seine Entmachtung nicht einfach hingenommen, sondern sich so gut wie möglich gewehrt. So ist Abu Mazen zwar für die Innenpolitik zuständig, das Kommando über die Sicherheitsdienste liegt aber weiterhin bei Arafat. Praktisch lässt das dem neuen Premier wenig Handlungsspielraum im Kampf gegen Terroristen. Abu Mazen darf zwar seine Minister selbst ernennen, kann aber von Arafat jederzeit entlassen werden, der auch Friedensverhandlungen seine Erlaubnis erteilen muss.

Viel hängt von Abu Mazens politischem Geschick ab. Auf der einen Seite darf er Arafat nicht verägern, auf der anderen muss er vorsichtig versuchen, seine Kompetenzen zu erweitern und eine breitere Basis in der Bevölkerung aufzubauen. Momentan kann er sich auf die Unterstützung der Fatah und des Parlamentes verlassen. Auf Dauer ist das nicht genug, und um seine Beliebtheit zu steigern, muss er schnell sicht- und vor allem essbare Erfolge vorweisen.

Nur so kann er den Siegeszug der Extremisten stoppen. Deren politisches Programm bietet keine Hoffnung auf Frieden, bis auch der letzte Jude aus Israel verjagt ist. Intifada als Dauerzustand aber stellt für die Mehrheit der Palästinenser kein erstrebenswertes Ziel dar. Sobald der Friede in greifbare Nähe rückt und sich die palästinensischen Kühlschränke wieder füllen, werden für die Extremisten harte Zeiten anbrechen. Sie werden sich – wie bisher immer – darum bemühen, eine Annäherung der Konfliktparteien mit Bombengewalt zu verhindern.

Nur einer kann Abu Mazen die dringend benötigen Erfolge verschaffen: Ariel Sharon. Es ist jetzt an Israels Ministerpräsidenten zu zeigen, wie ernst er es mit seiner Unterstützung eines Palästinenserstaates meint. Auch US-Präsident George W. Bush hat angekündigt, das amerikanische Engagement in Nahost wieder intensivieren zu wollen. Doch seine Rede vor dem American Enterprise Insitute vom Februar machte den Palästinensern wenig Hoffnung. Den in der so genannten Road Map entworfenen Zeitplan, der die Ausrufung eines Staates für Ende 2003 und die Festlegung der endgültigen Grenzen für das Jahr 2005 vorsieht, erwähnte der Präsident mit keinem Wort. Auf einer Pressekonferenz am Freitag kündigte er an, nach der Bestätigung des palästinensischen Premierministers Einzelheiten des Friedensplanes bekannt zu geben, allerdings nur, wenn jener »wirkliche Autorität« habe. Solange Arafat für Verhandlungen mit Israel verantwortlich bleibt, dürfte diese Bedingung nicht erfüllt sein.

Die Palästinenser aber fürchten, dass Verhandlungen ohne verbindlichen Zeitplan in dieselbe Sackgasse führen könnten, in der schließlich auch der Osloer Friedensprozess endete. Ohnehin hat Bush verschiedenen israelischen Forderungen nachgegeben und verlangt die ersten Schritte zur Verwirklichung des Planes ausschließlich von den Palästinensern. Selbst einen Stopp der israelischen Siedlung fordert Bush erst für den Moment, da »ein Fortschritt in Richtung des Friedens gemacht wurde«.

Sharon träumt noch immer von einem von Siedlungen und Transitautobahnen zerstückelten Palästina, dessen Bürger sich zwischen ihren Enklaven mit Hilfe von Brücken und Tunneln bewegen sollen. Außerdem hat er keine Eile. Zehn bis 15 Jahre könne so ein Staat noch auf sich warten lassen, war von ihm letzthin zu hören. Unter diesen Umständen wird Abu Mazen politisch nicht lange überleben.

Sharon hat seiner Bevölkerung geschickt vorgegaukelt, Arafat sei das einzige Problem auf dem Weg zum Frieden. Das könnte sich bald als Mär herausstellen. Tatsächlich werden nämlich erst nach Arafat die wirklichen Differenzen zwischen den Verhandlungspartnern wieder in den Vordergrund treten. Solange Israel nicht bereit ist, ein Palästina in den Grenzen von 1967 zu erlauben und eine signifikante Anzahl Siedlungen zu evakuieren, und solange die Palästinenser auf dem Recht aller Flüchtlinge bestehen, nach Israel zurückzukehren, bleiben Friedensverhandlungen im Nahen Osten eine leere Geste.