Rein in die Masse!

Die Antikriegsbewegung lässt sich nicht auf die Unterstützung von Schröder und Chirac reduzieren. Sie könnte der Beginn eines weltbürgerlichen Bewusstseins sein. von bernhard schmid

Eigentlich ist es ja eine erfreuliche Nachricht, dass sich Menschen massenhaft zusammenfinden und für ein legitimes Anliegen auf die Straße gehen. Europäische Linke jedenfalls, deren Demonstrationen in der jüngeren Vergangenheit oft eher überschaubar blieben, hätten keinen Grund, sich zu beschweren. Wenn sich aber diese Demonstrationen an die eigene Regierung wenden und von ihr fordern, sie möge gegenüber einer ausländischen standhaft bleiben, zeugt das zumindest von ernsthaften Orientierungsproblemen. Dennoch beschränken sich die weltweiten Proteste gegen einen Irakkrieg nicht auf die Zustimmung zu bestimmten nationalen Regierungen. Vor allem sollte man nicht vergessen, dass die Mobilisierungen einen internationalen Charakter haben und bezwecken, die US-amerikanische Antikriegsbewegung zu unterstützen.

In manchen Ländern haben wir es mit dem – vielleicht naiven, aber prinzipiell positiven – beginnenden Ausdruck einer Art weltbürgerlichen Bewusstseins zu tun. Vielleicht am wenigsten in Deutschland, wo andere politische Traditionen existieren. Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, für dessen Opfer viele fälschlicherweise Deutschland halten, mag dabei eine Rolle spielen. Zum Fortleben dieser unguten Denktradition trugen sicher auch Teile der westdeutschen Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre bei, die wegen der Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles von einem »atomaren Holocaust« schwadronierten, der die Deutschen bedrohe.

Auf andere Länder lässt sich dies nicht übertragen. So halluziniert in einem klassischen Kolonialstaat wie Frankreich niemand das eigene Land als »Hauptopfer« fremder Mächte, um gegen Großmachtpolitik und Krieg zu protestieren. Der internationale Charakter der Bewegung gegen den Krieg ist jedenfalls gegen derlei nationale Nabelschau unbedingt zu stärken.

Will man die Demonstrationen in Europa bewerten, muss man trennen zwischen den Protesten in Ländern, deren Regierungen den Kriegskurs der US-Administration offen unterstützen, und den anderen. In einem Fall sind die Mobilisierungen grundsätzlich begrüßenswert, insbesondere dann, wenn sie sich, wie etwa in Italien, mit der geballten sozialen Wut auf die eigene Regierung mischen. Und die Riege der europäischen Staatsführungen, die derzeit Bushs Irakpolitik unterstützen, sieht nicht eben sympathisch aus – in Rom, Lissabon und Kopenhagen sind Rechtsextreme oder Rechtspopulisten als Koalitionspartner beteiligt. Proteste gegen sie, wie auch gegen Blair und Aznar, verdienen Unterstützung.

Komplizierter ist die Situation in Frankreich und in Deutschland. Das hängt mit den gegenwärtig aufbrechenden imperialistischen Konflikten zusammen. Besteht nicht die Gefahr, im Streit zwischen Bush und Chirac oder Schröder um die Neuverteilung der Gewichte in der Nato oder der Neuordnung des Nahen und Mittleren Osten zur Manövriermasse zu werden? In der Tat, das Risiko besteht, wenn man mit politischer Naivität an die Situation herangeht. Doch es gibt keine Fatalität. Demonstrationen in Berlin oder Paris sind keineswegs zwingend als Unterstützung für die dortigen Regierungen auszulegen. In Frankreich jedenfalls ist das Regierungsspektrum den Demonstrationen bisher fern geblieben. Am 15. Februar musste man schon genau hinsehen, um die paar Gaullisten zu entdecken. Andererseits erzielt der französische Präsident bei Umfragen derzeit höhere Popularitätswerte als je zuvor. Dennoch gibt es genügend Gründe, auf den Demonstrationen gegen einen Irakkrieg auch die eigene Regierung zu attackieren, wegen der Rolle französischer Truppen in Afrika etwa oder der Umwandlung der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee.

Die Regierungen Chiracs und Schröders versuchen, auf einer starken Strömung in der öffentlichen Meinung zu surfen. Zwar ist die weit verbreitete Antikriegsstimmung nicht der einzige Grund für ihre Konfrontation mit Bush, aber sie fließt in das Kalkül mit ein. An der kritischen Linken liegt es, diesen Versuch, die eigene innenpolitische Legitimität zu stärken, zurückzuweisen. Eine soziale Bewegung ist immer auch ein Kampffeld und kein monolithischer Block, auf dem wer auch immer sich ausruhen könnte.