Wanderjahre der Bewegung

Naomi Kleins neues Buch dokumentiert den Stand der Globalisierungskritik und deren Schwachpunkte. von ferdinand muggenthaler

Mit 17 saß ich an einem Küchentisch und machte mir Gedanken, warum ich eigentlich politisch aktiv geworden bin. Wir, die Mitglieder eine linken, radikalreformistischen Vereinigung hatten den Abend der Selbstbefragung gewidmet. Einer hatte seine politische Karriere mit der Empörung über die Verschmutzung von Gehsteigen durch weggeworfene Kaugummiverpackungen begonnen. Ansonsten waren die Ergebnisse nicht weiter überraschend: Ungerechtigkeit und Doppelmoral in der Welt waren der Ausgangspunkt des Engagements.

In »Über Zäune und Mauern« schildert Naomi Klein ein Schlüsselerlebnis ihrer politischen Karriere. Als Nachwuchsjournalistin erlebt sie während ihrer ersten Nachtschicht, wie die Titelseite nach Redaktionsschluss umgestaltet wird, um drei Unwetter-Tote in den USA zu melden. Während ihrer zweiten Nachtschicht sterben 114 Menschen in Afghanistan. Kein Grund, die Maschinen anzuhalten, entscheidet der leitende Redakteur.

Ungerecht, zynisch.

Ausgehend von der Wahrnehmung der Ungerechtigkeit der Welt und des Zynismus der Wirtschaftsführer und Politiker, wird Naomi Klein Teil der »Antiglobalisierungsbewegung«, wie die Presse sie nennt, oder der Bewegung für globale Gerechtigkeit, wie sie andere nennen. Klein möchte sich da nicht festlegen und nennt sie einfach »die Bewegung«. Von der gefeierten Verhinderung des WTO-Treffens in Seattle über die großen Protestgipfel in Prag und Genua bis zum Weltsozialforum in Porto Alegre sind alle Zentralereignisse in dem Sammelband vertreten. Die meisten Artikel sind ursprünglich für das liberal-konservative Publikum des kanadischen Globe and Mail geschrieben und schon deshalb allgemeinverständlich formuliert und von Solidarität mit der Bewegung geprägt. Zu Recht schreibt die FAZ, das Buch sei »für all diejenigen interessant zu lesen, die sich für fremde Sichtweisen interessieren.« Aber was ist, wenn einem das alles ziemlich bekannt vorkommt?

Auch Naomi Klein ist das alternative Milieu, in dem sie als Tochter eines linken Aktivistenpaars aufgewachsen ist, manchmal erschreckend vertraut. So schildert sie beispielsweise, wie sie auf einer Konferenz auf den altgedienten Aktivisten David Solnit trifft, der dem Nachwuchs neue Ideen für kreative Protestformen vermittelt. »Er bat jeden aufzustehen, sich seinem Nachbarn zuzuwenden und zu fragen, warum er hier sei. In mir, als ein Kind von Hippies und Überlebende alternativer Sommercamps, erzeugen diese Rituale von Instant-Intimität immer das starke Bedürfnis, in mein Zimmer zu rennen und die Tür hinter mir zuzuknallen.« Aber bekanntlich schützt der Protest gegen die eigenen Eltern selten davor, ihre Fehler zu wiederholen.

Wer es sich ersparen will, diverse Internetseiten abzusurfen, der mag mit Naomi Klein die Wege nachverfolgen, die die Bewegung von Seattle bis Porto Alegre genommen hat. Die Kolumnensammlung lässt sich tatsächlich als Entwicklungsroman der Bewegung lesen, wie Tobias Rapp in Jungle World, 10/03 meinte – allerdings als ein unvollendeter. Ob sich die Erzählerin auch in Zukunft noch mit dem Romanhelden wird identifizieren können, muss sich im nächsten Band erweisen. Bisher bricht Naomi Klein nur manchmal aus der Bewegungslogik aus. Z.B. wenn sie in einem Text nicht die absolute Verarmung durch neoliberale Politik und den Kulturimperialismus der USA anprangert, sondern schildert, dass US-amerikanische Konsumprodukte weltweit sehr beliebt sind. Nur die Kaufkraft wächst nicht so schnell wie das Konsumbedürfnis. In einem Text aus dem Jahr 2002, der für das Buch zu spät kam, kritisiert sie, wenn auch vorsichtig, die unbedingte Solidarität der Bewegung mit der palästinensischen Sache und ruft zum Kampf gegen Antisemitismus auf (siehe www.nologo.org).

Aufschlussreich ist das Buch, weil es dokumentiert, wie sich die gerechte Empörung in eine politische Meinung verwandelt. Auch das eine unvollendete Enwicklung. Oder eine zu schnell abgebrochene? Aus der Empathie mit den ungerecht Behandelten erwächst die Idealisierung der Unterdrückten. Aus der Ablehnung der großen Macht folgt die Verherrlichung der lokalen Selbstorganisation. Aus der Kritik an der aggressiven Expansion des Kapitalismus folgt die Verteidigung des Indigenen, Authentischen. Dieser Automatismus ist bei Naomi Klein hinter vielen Argumenten zu spüren. In diesem Punkt scheint sie mir repräsentativ für große Teile der Bewegung zu sein – egal ob radikal oder nicht.

Gleichzeitig ist ihr als aufmerksamer Beobachterin nicht entgangen, dass die Bewegung alles andere als lokal und indigen ist. Im Gegenteil, von Anfang an preist sie den modernen, vom Internet geprägten Charakter des Protests und weist den Vorwurf, sie wolle zu »engem Nationalismus« zurück, ins Reich der Propaganda. Nur um dann wieder rhetorisch zu fragen: »Haben die Nafta-Regeln es uns erlaubt, unsere (kanadische) Kultur zu schützen?«

Eigenartig ist auch, dass sich kaum ein Artikel mit ökonomischen Analysen aufhält, wo es doch gegen die »globale Konzernherrschaft« geht. Klar, dass dann der Kapitalismus – Klein freut sich, dass dieser Begriff wieder verwendet wird – vor allem als das Werk profitgieriger Konzernlenker erscheint. Vielleicht kann sie deshalb so umstandslos Demokratie als zentrales Leitbild und Allheilmittel empfehlen. Wenn nur nicht mehr diese ungewählten Herren mit ihrer Religion des Neoliberalismus und ihren Predigern von IWF und Weltbank das Sagen hätten!

Die Bezugnahme auf die »wirkliche« Demokratie als einende Utopie der Bewegung findet sich in fast jedem Artikel. Freilich soll die wirkliche Demokratie mehr sein, als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, deshalb spricht die Autorin von »deep democracy« oder »close-up democracy on the ground«. Dass die basisdemokratische Gemeinde möglicherweise dem Bau eines Asylbewerberheims ebenso ablehnend gegenübersteht wie die Regierung dem Zuzug von Migranten kommt der Autorin nicht in den Sinn. Zwar wäre es albern, von einer Sammlung von Zeitungsartikeln eine kohärente Analyse oder Theorie zu verlangen. Ebenso wenig kann man dies von einer Bewegung fordern. Aber ist etwas mehr Bewusstsein für die eigenen Widersprüche zu viel verlangt?

Einer der wenigen Texte, in dem sich Naomi Klein ausdrücklich Gedanken zur Strategie der Bewegung macht, ist mit dem Titel »What next?« überschrieben und stammt aus dem April 2000. Dort beschreibt sie die missionarischen Bemühungen von Anarchoprimitivisten, Sozialökologen, marxistischen Sekten und sozialdemokratischen Pragmatikern, die Bewegung zu hijacken. »Es gereicht der Bewegung zur Ehre, dass sie bisher all diese Programme abgewehrt und jedes großzügig gestiftete Manifest zurückgewiesen hat und stattdessen die akzeptablen und repräsentativen Prozesse durchgehalten hat, die ihren Widerstand auf die nächste Ebene gehoben haben. Vielleicht besteht die wahre Herausforderung gar nicht darin, eine Utopie zu entwerfen, sondern darin, sich nicht zu schnell mit einer zufrieden zu geben.«

Es ist ja sympathisch, sich nicht einem vorgebeteten hermetischen Weltbild unterzuordnen. Aber gibt es wirklich nur die Wahl zwischen Dummheit und Dogma?

Naomi Klein: Über Zäune und Mauern. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2003, 306 S., 17,90 Euro. Weitere Texte von Naomi Klein auf www.nologo.org