Die Gebärmutter aller Prozesse

Im Verfahren gegen die Mitglieder der griechischen Stadtguerilla 17. November sollen viele Aussagen durch Folter erpresst worden sein. von harry ladis, thessaloniki

In der griechischen Presse wird es schon als »Mutter aller Prozesse« bezeichnet. Das Verfahren gegen die Stadtguerilla-Gruppe 17. November zog hier große Aufmerksamkeit auf sich. Beinahe alle Medien wurden mit Informationen, Details und Protokollen überschwemmt.

Doch in den ersten Tagen des Irakkrieges war darüber kaum etwas zu lesen, wenngleich künftige Umfragen vermutlich höhere Sympathiewerte für die Gruppe ergeben könnten. Die Mitglieder des 17. November dürften sich durch den Irakkrieg in ihrer antiamerikanischen Zielsetzung bestätigt fühlen; in ähnlichen Situationen haben sie in der Vergangenheit dem »Volkszorn« Ausdruck verliehen.

Das Volk bleibt als ständiger Bezugspunkt der Gruppe bestehen. Dimitris Koufodinas, der sich gern als ihr Sprecher präsentiert, hatte ein Manifest vor dem Gericht verlesen, in dem er den Prozess mit dem Verfahren gegen die griechischen Befreiungskämpfer nach dem Aufstand gegen die Osmanen zu Beginn des 19. Jahrhunderts verglich. Auch die Prozesse gegen die KP-Mitglieder in der Nachkriegszeit sowie gegen das deutsche RAF-Mitglied Rolf Pohle Ende der siebziger Jahre wurden vom ihm als Vergleich herangezogen.

Die Aktionen der Gruppe seien durch das »Volksgefühl« legitimiert worden, so Koufodinas. Dabei bezog er sich auf Umfragen, denen zufolge die Gruppe immer noch bei etwa drei Prozent der Bevölkerung und immerhin bei zehn Prozent der Jugendlichen beliebt ist.

Solche populistischen Verbindungen gehören ohnehin zu den ideologischen Fundamenten der Gruppe. Analog zur Arbeitsteilung im kapitalistischen Produktionsprozess lassen sich auch klar getrennte Rollen im Widerstand produzieren: Die Fachleute der Militanz handeln, und die Fernsehzuschauer können sie bewundern und in den Umfragen für sie stimmen.

Sämtliche Anträge der Verteidigung zu Beginn des Prozesses Ende März wurden zurückgewiesen. Die Live-Übertragung des Verfahrens wurde abgelehnt, die Zuständigkeit des Gerichts wurde nicht bestritten, und die Nichtigkeit des Vorverfahrens wegen Anwendung der Folter wurde nicht anerkannt. Die Richter wiesen einstimmig alle Einwände ab, wie es der Staatsanwalt Evangelos Markis zuvor gefordert hatte.

Markis ist eine berüchtigte Figur. Als Vorsitzender des Staatsanwältevereins hatte er vor zwei Jahren den Vorstand des Komitees zum Entwurf des Antiterrorgesetzes inne. Während damals sechs prominente Juristen wegen der vorgesehenen Maßnahmen das Komitee verließen, profilierte sich Markis als engagiertester Befürworter der neuen Gesetze.

Viel Aufmerksamkeit haben indes die Plädoyers der Verteidiger zur Änderung der Gerichtsbarkeit hervorgerufen. Denn wenn die Straftaten des 17. November als politische Delikte anerkannt worden wären, hätten sie von einem Schöffengericht beurteilt werden müssen – was sowohl die Angeklagten als auch ihre Unterstützer erreichen wollten. Das Gericht folgte jedoch diesem Antrag nicht, da es in Griechenland bislang noch kein Urteil mit einer eindeutigen Definition eines politischen Deliktes gegeben hat.

In der parlamentarischen Linken sorgten vor allem die Ausführungen des Strafverteidigers Giannis Rachiotis, der die Praxis des 17. November rechtfertigte, für großes Aufsehen. »Die Linke in Griechenland hat sich ständig auf Verteidigungsgründe berufen, während der 17. November die Offensive in der Linken darstellt.« Und er fuhr fort: »Was war der 17. November? Es war der Gejagte, der sich zum Jäger verwandelte. Diese Gruppe hat die Angst als einen Parameter des Alltags der herrschenden Klassen eingeführt.«

Seine Worte haben heftige Reaktionen nicht nur auf der Anklägerbank hervorgerufen. Auch einige seiner Kollegen kritisierten die Rede Rachiotis’ heftig. Vertreter der parlamentarischen Linken beeilten sich ebenfalls, sich an Distanzierungen zu überbieten (Jungle World, 36/02). Der 17. November und die Kommunistische Partei Griechenlands seien wie Tag und Nacht, erklärte etwa die KP-Parteisekretärin Aleka Papariga. Für willkürlich hielt die frühere Vorsitzende der Linken Koalition, Maria Damanaki, »den Versuch, die Linke als Gebärmutter aller Terroristen darzustellen«. Für die parlamentarische Linke in Griechenland ist es wichtig, klare Trennlinien zu ziehen und die gemeinsamen Traditionen mit dem 17. November zu verleugnen, den Leninismus und Stalinismus.

Ein weiterer Streitpunkt des Verfahrens besteht darin, ob die Behandlung von Savas Xeros nach seiner Verhaftung mit Psychopharmaka dazu geführt hat, ein »Sonderverhältnis« zwischen ihm und den Fahndungsbehörden herzustellen (Jungle World, 33/02). Schließlich führten erst seine Aussagen die Polizei auf die Spur der meisten Angeklagten.

Außer Zweifel steht mittlerweile, dass seine Grundrechte in der Ermittlungsphase verletzt worden sind. Seine Aussagen hatte er jedoch später in Anwesenheit seines Verteidigers bestätigt. Erst nachdem Koufodinas auftrat und die politische Verantwortung übernommen hatte, zog Xeros seine Aussagen zurück und bevorzugt seitdem einen kämpferischen Stil.

Seine zwiespältige Haltung entspricht aber keineswegs der Entschlossenheit, die man von einem Stadtguerillakämpfer erwarten könnte. Staatsanwalt Markis ließ sich die Gelegenheit auch nicht nehmen, um ihn deswegen zu verhöhnen. »Es war nicht Savas Xeros, der ausgesagt hat. Es war der Priestersohn, der in seiner Agonie gebeichtet hat, um seine Seele zu säubern.«

Die Verwicklung von bewaffnetem Widerstand und Orthodoxie, sei sie leninistisch oder christlich, kann manchmal tragikomische Ergebnisse haben.

Während immer mehr davon die Rede ist, dass viele Aussagen durch Folter erpresst worden seien, kam es plötzlich zu der ersten belastenden Aussagen. Der ebenfalls angeklagte Patroklos Tselentis hat Christodoulos Xeros, den Bruder von Savas Xeros, des Mordes an dem Großunternehmer Agelopoulos beschuldigt und somit seine früheren Aussagen bestätigt. Die Kronzeugen haben angefangen zu tanzen. Wenn wir nicht dazu tanzen können, ist es nicht unsere Revolution, würde Emma Goldman sagen.