Homestorys

Auf dem Frauenfilmfestival »femme totale« in Dortmund ging es um Herkunft und Fortgehen und Ankommen. von ulrike mattern

Am Bahnhof von Dortmund leuchtet von weitem das Plakat zum Filmfest. Ein dunkelbrauner Fernseher, der bessere Tage gesehen hat, steht im orangefarbenen Sand. In der Ferne brechen Wellen gegen den Strand. Aus dem Horizont ragt in blauen Lettern das Motto des zum neunten Male stattfindenden Filmfestivals »femme totale« hervor: »No place like home«.

Strandgefühle kamen Anfang April in der Stadt im Ruhrgebiet nicht auf. Trotz Frühlingssonne war es bitterkalt, und das Elend, das an den fünf Festivaltagen über die Leinwand zog, trug wenig zur Erwärmung bei. Dies war nicht auf die mangelnde Qualität der rund 100 Werke aus weiblichem Filmschaffen zurückzuführen, sondern der Themenwahl geschuldet.

Um Herkunft in all ihren Facetten drehte es sich: Sehnsucht nach Zuhause; Abwendung von Heimat in Migration, Diaspora und Flucht; kontinuierliche Spurensuche; territoriale und persönliche Grenzerfahrungen. Passend zur politischen Lage richtete sich der Fokus im Länderschwerpunkt auf Afghanistan. »Afghanistan entschleiert«, so der Titel eines Dokumentarfilms der ersten afghanischen Kamerafrauen in Kabul nach dem Sturz der Taliban. Die Reihe läuft im Anschluss an das Festival vom 4. bis zum 14. April im Filmmuseum in Frankfurt/M.

»No place like home« ist ein Zitat aus dem amerikanischen Film »The Wizard of Oz« von 1939. Ein Klassiker, fest verankert im amerikanischen Wertekanon. Dorothy (Judy Garland) verlässt die wenig gastliche Farm von Tante und Onkel in Kansas, um jenseits des Regenbogens ihr Zauberland zu suchen. Ein Wirbelsturm bringt sie dorthin. Doch das Idyll trägt einen Makel: Es ist nicht das Zuhause, und die Kleine bekommt Heimweh. Indem sie die Hacken ihrer roten Schuhe gegeneinander schlägt und dabei die erlösende Formel »There is no place like home« spricht, gelangt Dorothy zurück nach Kansas.

Es bleibt ausreichend Raum für Interpretationen in dieser kindlichen Story, die seit mehr als 60 Jahren das Publikum bewegt. Handelt es sich um die schamlose Idealisierung von Heimat mit systemstabilisierender Wirkung oder um die Schilderung von Sehnsucht nach Geborgenheit mit inhärentem Scheitern? Georg Seeßlen verweist darauf, dass die Zauberformel »ein schöner oder schrecklicher Satz ist. Es kommt nur auf die Betonung an.«

Auf dem Filmfestival in Dortmund ging es zumeist um die beängstigende Dimension von »No place like home«. In dem französischen Zeichentrickfilm »Le Trop Petit Prince«, in dem ein Junge den dreckigen Mond und die Sterne putzt, um dann als Verursacher der Verschmutzung geoutet zu werden, oder in dem amerikanischen Kurzfilm »Border«, in dem eine Gans zu John Lennons »Imagine« einen Grenzübergang ohne Passierschein überquert, lacht man befreit über skurrile Wendungen in einem ansonsten düsteren Programm.

Der Shorty »Border« gab das leichte Entree zu einem der eindringlichsten Dokumentarfilme während des Festivals. »De l’autre côté – Von der anderen Seite« der Filmemacherin Chantal Akerman entstand als Installation für die Documenta 11. Entlang der Staatengrenze USA-Mexiko filmte sie auf beiden Seiten Menschen und befragte sie zu deren Ängsten. Den Blick starr auf das Auge der Kamera gerichtet, erzählen Mexikaner von ihren Angehörigen, die beim Grenzübertritt umgekommen oder verschollen sind. »Wir kommen aus dem Nichts und wir gehen ins Nichts«, resümiert ein Mexikaner als Sprecher für eine Gruppe von Illegalen. Ein anderer wischt sich bei seinen Worten die Tränen aus den Augenwinkeln.

Auch die andere Seite beklagt ihre Opfer. Ein Polizist hält auf der Beerdigung eines Kollegen, der getötet wurde, eine Rede und spricht vom »täglichen Krieg« der USA gegen die illegalen Grenzgänger. Die Kamera zoomt auf die eng nebeneinander stehenden Trauergäste, die eine Mauer aus starren Körpern und versteinerten Mienen bilden. Ein gut situiertes Paar, Amerikaner, die in der Region leben, sorgt sich um seine Sicherheit. Der Mann sagt mit Nachdruck, dass er nicht zögern würde, sein Gewehr zu benutzen, um seinen Besitz zu verteidigen.

Unaufhörlich hält die Regisseurin die Kamera auf die Mauer. In Augenhöhe fährt sie vorbei. Ein endloser, meterhoher Wellblechzaun, mit Stacheldraht gekrönt. Vom Wüstensand schmutzig braun gefärbt. Bei Dunkelheit tauchen Scheinwerfer die Szenerie in grellweißes Flutlicht. Die Staatengrenze wirkt wie ein kapitalistischer Schutzwall, der Menschen, die alles haben, vor denen bewahren soll, die nichts besitzen.

Vor geschlossenen Toren steht auch Pablo, Protagonist in dem Dokumentarfilm »Paso Inverso« der in Argentinien aufgewachsenen Schweizerin Claudia Lorenz. Bewaffnete Polizisten schützen den Präsidentenpalast in Buenos Aires. Das Unvermögen der Politiker, die Argentinien in den Ruin trieben, macht Pablo zornig. Wie einige seiner Landsleute besinnt er sich auf seine Vorfahren, die aus der Schweiz auswanderten, und beantragt einen Pass bei den Eidgenossen. Ein weißes Kreuz auf rotem Grund wird zum Symbol für das gelobte Land. »Ich gehe den umgekehrten Weg meines Großvaters«, sagt Pablo mit unsicherem Grinsen zu der Angestellten im Konsulat.

Diejenigen, die Abschied nahmen und in der Migration angekommen sind, verdrängen oftmals ihre Herkunft durch Verleugnung der alten und Adaption der neuen Kultur. »I feel English«, spricht Sally Merrison gebetsmühlenartig in die Kamera der Tochter Lindsey. Die Mutter der Filmemacherin weigert sich zuzugeben, dass sie nicht in Hemel Hempstead in England, sondern in Burma geboren wurde und dort 17 Jahre ihres Lebens verbrachte. Gemeinsam mit ihrem Bruder kehrt Sally unter dem reflektierenden Blick der Kamera in ihre Heimat zurück. »Our Burmese Days« dokumentiert diese Reise in die vertraute Fremde.

Die Distanz schaffende Handkamera gab auch der Regisseurin Caterina Klusemann die Kraft, ihrer Großmutter unbequeme Fragen nach der Herkunft zu stellen. »Ima« (hebräisch für Mutter) dokumentiert in vielen Szenen ihr anfängliches Scheitern, die Familiengeschichte zu rekonstruieren. Die energische Dame beschimpft die hartnäckig nachforschende Enkeltochter und fordert, in Ruhe gelassen zu werden. Die ins Schloss fallende Schlafzimmertür wird zur Metapher der Verweigerung. Eines Abends bleibt sie geöffnet. Die Großmutter übergibt der Enkelin ein Päckchen mit Dokumenten und Fotos aus ihrer Vergangenheit. Sie ist Jüdin, rettete sich und ihrer Tochter, der Mutter der Filmemacherin, mit falschen Papieren das Leben.

Wo sich die einen lautstark von ihrem Schmerz zu befreien suchen, verstummen andere in Sprachlosigkeit. »You are deaf, blind and mute as an immigrant«, formuliert Jane Wong. Sie porträtiert in »Dim Sum – A little bit of heart« drei Frauen, wovon eine ihre Mutter ist. Bewegt sich die als Tochter chinesischer Einwanderer in Liverpool geborene Wong mühelos zwischen den Welten, überwindet ihre Mutter nur zögerlich die Kultur- und Sprachbarrieren. »They have their little fortresses«, beschreibt Jane Wong den Versuch der drei Frauen, Vertrautes im Fremden zu positionieren.

Das Festival-Motto war gut gewählt. »No place like home« projizierte Konnotationen von Herkunft, die – um auf das sommerliche Filmplakat zurückzukommen – in ihrer Vielfalt keinen Platz auf dem Mini-Bildschirm des altmodischen Fernsehers fänden, aber genügend Raum am menschenleeren Strand.