»Es gab nur zwei, drei Pistolen im Ghetto«

Marian Turski

Juden haben an vielen Orten Widerstand gegen die Nazis geleistet. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann. Marian Turski war mit seiner Familie 1940 in das Ghetto Lodz verschleppt worden, wo er sich 1942 als 18jähriger der Untergrundorganisation Lewica Zwiazkowa (Linker Bund) anschloss.

Nach der Befreiung war er Leiter der historischen Abteilung der polnischen Wochenzeitung Polityka und Autor zahlreicher Bücher u.a. über die Vernichtung der europäischen Juden. Mit ihm sprach Kerstin Eschrich.

Über drei Wochen dauerten die Kämpfe im Warschauer Ghetto gegen die Übermacht der Deutschen. Der Aufstand wurde zu einem Symbol für den Kampfeswillen der Juden. Haben Sie im Ghetto Lodz von dem Aufstand gehört?

Wir haben davon gehört und wir träumten davon, dass es auch in Lodz einen Aufstand geben würde. Aber dafür braucht man Waffen und wir hatten keine. Es gab vielleicht zwei oder drei Pistolen im ganzen Ghetto.

Sie konnten also keinen direkten Widerstand leisten?

Vielleicht sollten wir jetzt, 60 Jahre später, unsere Kriterien überdenken. Damals glaubten wir, ein bewaffneter Aufstand sei absolut das Wichtigste. Aber das wichtigste Ziel aller Juden in den Ghettos war zu überleben. Das heißt natürlich nicht, überleben um jeden Preis, auf Kosten deines Freundes, Nachbarn oder Bruders. Das Ziel von Hitler war, alle Juden zu ermorden, so war unser Hauptziel, so viele Juden wie möglich zu retten.

Die Untergrundorganisation Lewica Zwiazkowa war kommunistisch orientiert. Erzählen Sie etwas über diese Gruppe.

Wir hatten etwa 600 Mitglieder. Uns war es besonders wichtig, die Losung »pp« zu verbreiten, das bedeutet »langsam arbeiten«. Das schrieben wir an Mauern und Wände. Arbeiten mussten wir ja, um zu überleben. Aber wir wollten wenigstens die Produktion für die deutsche Armee verlangsamen. Außerdem versuchten wir, die Arbeiter zu organisieren, um die Betriebe nach der Befreiung zu Gunsten des Volkes zu übernehmen. Wir waren auch verpflichtet, uns zu bilden. Wir lasen Karl Marx, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg. Wir haben die Bücher mit der Hand abgeschrieben. Später bekamen wir einige Schreibmaschinen. Jedes Mitglied musste zudem einen Teil seiner mageren Essensration, etwa 800 bis 1 000 Kalorien pro Tag, abgeben. Das Essen wurde an Kranke, Schwache und Menschen verteilt, die in besonderen Schwierigkeiten waren.

Die Organisation hat auch Streiks organisiert, etwa den Hungerstreik der Kinder 1944. Die geringen Suppenrationen in der Fabrik, in der die Kinder gearbeitet haben, wurden nicht mehr angenommen, um eine gerechtere Verteilung des Essens zu erreichen und die Produktionsnormen für die Jugendlichen zu reduzieren.

Aber an wen konnten sie sich denn mit ihren Forderungen wenden? Wer konnte es sich erlauben, die Kinder zu unterstützen?

Jeder Streik war ein Risiko. Der Judenälteste, Mordechai Rumkowski, der für die Verteilung des Essens und die Normen verantwortlich war, konnte es sich eigentlich nicht leisten zu helfen. Er hatte auch Angst vor den Deutschen. Aber in diesem Fall hat sich das Risiko gelohnt. Zwar wurden die Normen nicht herabgesetzt, aber die Essensrationen wurden erhöht.

Als Sie der Organisation beitraten, waren Sie noch sehr jung, 16 Jahre alt. Wie sind Sie zu dieser Organisation gekommen?

Die ersten Mitglieder unseres Jugendverbandes waren meine Klassenkameraden. Sie haben mich davon überzeugt, dass es wichtig ist, aktiv zu werden. Es war eine große Ehre für mich, als ich aufgenommen wurde. Aber es war keine einfache Entscheidung für mich. Mein Vater war ein sehr bekannter und überzeugter Zionist und er war gläubig. Lewica Zwiazkowa war eine weltliche Organisation, eine atheistische. Ich weiß, dass ich ihn verletzte, als ich mich dieser sehr linken Organisation anschloss. Sie nannte sich zwar nicht kommunistisch, weil es nach 1938 ein Verbot der Komintern gab, eigene polnische kommunistische Gruppen zu gründen – es wurden nationalistische Tendenzen befürchtet. Die Gründer der Organisation waren aber natürlich Kommunisten. Sie waren Anführer der linken Gewerkschaften.

Haben sie von nicht jüdischen Organisationen außerhalb des Ghettos Unterstützung erhalten?

Letztendlich nicht. Im Gegensatz zum Warschauer Ghetto, wo die Untergrundorganisationen mit der Außenwelt in Kontakt standen, war das Ghetto in Lodz hermetisch abgeriegelt. In Warschau entkamen bis zu 20000 Juden auf die andere Seite. Wenn in Lodz zwei Dutzend nach draußen kamen, dann sind das viel. Lodz war im September 1940 von den Deutschen besetzt und als Teil des so genannten Warthegaus an das Dritte Reich angegliedert worden. Das hieß, dass die Nazis die Stadt nicht nur »judenrein« machen wollten, sondern auch »polenrein«. Die Untergrundbewegungen der polnischen Bevölkerung waren jedoch selber so schwach und klein, dass man nicht mit ihrer Unterstützung rechnen konnte.

Sie wurden nach der Auflösung des Lodzer Ghettos 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Wie haben Sie die Befreiung erlebt?

Ich war in Auschwitz bis zum 18. Januar, bis zum Ende. Dann wurden wir auf den Todesmarsch getrieben. Zuerst nach Buchenwald. Dann nach Tschechien. Ich wurde in Theresienstadt von der Roten Armee befreit. Aber ich konnte mich nicht freuen. Ich wog 32 Kilo und war ein typischer Muselmann. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und war mit Fleckfieber infiziert. Ich konnte nichts essen und hatte immerzu Durchfall. Erst Ende des Jahres ging es mir wieder besser.

Wie Sie geschildert haben, war Ihre Untergrundorganisation kommunistisch geprägt. Was wurde aus diesen kommunistischen Juden nach 1945?

Fast alle von uns haben wichtige Positionen im jüdischen und gesellschaftlichen Leben in verschiedenen Ländern eingenommen. Die meisten sind noch mit der Linken verbunden. Unsere Anführerin im Ghetto, Barbara Beatus, ist im Alter von 95 Jahren vor einem Jahr gestorben. Sie wollte vom Kommunismus seit 1968 nichts mehr wissen. Damals gab es diese antisemitische Kampagne in Polen aus den Reihen der Kommunistischen Partei. Noch schlimmer war die aggressive Einstellung der Partei gegen den Prager Frühling in der Tschechoslowakei. Das war das Ende aller Illusionen.

Auch für Sie?

Auch für mich. Aber ich würde mich noch als Linken bezeichnen, ich stehe auf der Seite der Geschlagenen und Unterdrückten. Aber das ist nicht immer so einfach.

Sie sind der Vorsitzende des Beirats zur Errichtung eines jüdischen Museums in Warschau. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit einer solchen Institution?

Ich kämpfe dafür, dass Geld aus der deutschen Entschädigungsstiftung für ein Museum zur Geschichte der polnischen Juden verwendet wird. Darin soll der Beitrag der Juden zum gesellschaftlichen und kulturellen Leben in Polen gewürdigt und ihre Präsenz in Europa dokumentiert werden. Ich kann verstehen, dass sehr viele Menschen sagen, dass das Geld vor allem für die Überlebenden sein soll. Sie haben gelitten, ihnen ist viel Unrecht angetan worden. Ich bin ein Überlebender, aber mein Vater wurde in Auschwitz vergast, mein Bruder auch. Das Einzige, was sie noch bekommen können, ist Erinnerung.

Am letzten Tag des Aufstands im Warschauer Ghetto, am 16. Mai, ließ Jürgen Stroop, der Kommandant der deutschen Streitkräfte, als Zeichen des Sieges die große Synagoge, die sich außerhalb des Ghettos befand, sprengen. Vielleicht sollten wir sie wieder aufbauen. Mein Vorschlag wäre, dass das historische jüdische Museum den Namen »große Synagoge« tragen sollte. Im Ghetto kämpften wir ums Überleben, weil die Nazis uns vernichten wollten. Heute müssen wir dafür sorgen, dass die Erinnerung an die ermordeten Menschen und die zerstörte Kultur erhalten bleiben.