Ameisen beißen auch

Durch den EU-Beitritt Polens geraten viele Kleinhändler in den östlichen Grenzregionen in Bedrängnis. Mitte April stürmten 200 Grenzgänger einen polnisch-ukrainischen Übergang. von franziska bruder, lwiw

Angriff der Ameisen« titelte die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, als Mitte April etwa 200 ukrainische Kleinhändler versuchten, den Grenzübergang Medyka-Schehyni zwischen der Ukraine und Polen unerlaubt zu überqueren, und sich eine Schlägerei mit den polnischen Grenzbeamten lieferten. Kleinere Vorfälle auf der polnischen Seite sind an dem Grenzübergang zwar an der Tagesordnung. Doch noch nie erreichten sie bisher diese Dimension. Kurz vor dem Beitritt Polens zur EU und der deshalb bevorstehenden verschärften Überwachung der zukünftigen Außengrenze nimmt die Spannung in der Region immer mehr zu.

Am 15.April eskalierte die Situation, als die polnischen Beamten den Fußgängerübergang der Grenze nicht wie üblich um 19 Uhr, sondern bereits eineinhalb Stunden früher schlossen. Zu dem Zeitpunkt befanden sich noch mehrere hundert polnische Kleinhändler zwischen dem ukrainischen Grenzposten, den sie bereits passiert hatten, und der polnischen Zollabfertigung. Diese Händler – polnisch »mrowka«, Ameise, ukrainisch »schovnik«, Schiffer, genannt – pendeln am Tag mehrmals zwischen den zwei Ländern hin und her. Sie transportieren vor allem Zigaretten und Alhohol nach Polen sowie Früchte und Fleischwaren in die Ukraine.

Die Menschen warteten mehrere Stunden in der Kälte. Sie zündeten kleine Feuer an und begannen, Alkohol zu trinken. Viele vermuten, dass die Grenzbeamten die Leute stundenlang frierend warten ließen, um das Bestechungsgeld in die Höhe zu treiben. Elzbieta Pikor von der polnischen Grenzwache in Przemysl behauptet dagegen, die Zollbeamten hätten darauf gewartet, dass aus der Menschenmenge die nächsten Personen zur Abfertigung kämen. Es sei aber niemand erschienen. Die Leute hätten Angst gehabt, dass man ihre Schmuggelware beschlagnahmen würde, so Pikor. Zu dem Zeitpunkt seien bereits 10 000 Päckchen Zigaretten konfisziert worden.

Gegen 22 Uhr war die Geduld der Wartenden zu Ende. Etwa 200 Personen stürmten die Zollabfertigungshalle und demolierten die Kabinen und das Mobiliar. Danach versuchten sie, nach Medyka auf der polnischen Seite zu flüchten. Die polnische Grenzpolizei stellte sich ihnen in den Weg und es begann eine Schlägerei. Zwei Grenzbeamte und vier Händlerinnen wurden verletzt, über hundert Polen festgenommen. Gegen 16 von ihnen wird ein Verfahren wegen unerlaubten Grenzübertritts eröffnet. Ein Vergehen, auf das in Polen bis zu zwei Jahre Gefängnis stehen.

Für die Menschen der Region ist der grenzüberschreitende Handel lebenswichtig. Das polnisch-ukrainische Grenzgebiet ist seit jeher eine strukturschwache Region, die vor allem von Landwirtschaft in sehr kleinen Betrieben geprägt ist. Die Arbeitslosenquote liegt auf beiden Seiten bei 30 Prozent. Überproportional hoch ist der Anteil der arbeitslosen Frauen, die gleichzeitig häufig für die Existenzsicherung der Familie zuständig sind. In der Ukraine ist jeder vierte Bürger nicht in der Lage, das Geld für die minimalen Lebenshaltungskosten aufzubringen. Damit bewegt sich das Land auf dem Level von Guatemala oder Surinam. Viele der Bergwerke, die an der weißrussischen Grenze liegen, haben in den letzten Jahren schließen müssen. Geblieben ist nur die starken Umweltbelastung durch Schwermetalle, die die Gesundheit der Menschen der Region nachhaltig schädigen und schwere Zahnerkrankungen hervorrufen.

Anfangs wurde der Grenzhandel vor allem von ukrainischen Frauen im Rentenalter betrieben, die mit Zigaretten, Wodka, Nüssen und Besen bepackt über die Grenze nach Polen fuhren, um mit den Einnahmen ihre Familien über Wasser zu halten. Inzwischen sind auch viele Polen daran beteiligt. Sie bringen Speck, Früchte oder Konditoreiwaren, die dort sehr viel teurer sind, in die Ukraine. Der Fußgängerübergang Medyka-Schehyni wurde speziell geschaffen, um einen Austausch zwischen den Bewohnern der Region zu erleichtern und die historisch stark belasteten Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen zu verbessern. Die Menschen nutzen ihn nun auf ihre Weise.

Die Schikanen der Grenzbeamten machen den Kleinhändlern allerdings das Leben schwer. Wenn man in der Ukraine in einem Bus oder einem Zug zur Grenze sitzt, merkt man, wie die Stimmung, je näher man der Zollabfertigung kommt, sinkt und ein beklommenes Schweigen sich ausbreitet. Alle sind abhängig von der Gunst der Zöllner, und zwar gleich zweimal. Ist es ein schlechter Tag, bleibt nach der Abfertigung kaum noch etwas von der Handelsware übrig. »Wenn die Miene der Zöllner grimmig ist, gehe ich gar nicht erst rüber, sondern fahre gleich wieder nach Hause«, berichtete eine Ukrainerin kurz nach der Schlägerei der liberalen Zeitung Postup. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kleinhändler bis in die Unterwäsche mit Zigaretten vollgestopft sind. Wie viel die Zöllner davon einkassieren, hängt von ihrer Tageslaune und dem Schmiergeld ab, das ihnen angeboten wird.

An der polnisch-ukrainische Grenze werden seit Jahren die Anlagen ausgebaut und die Abfertigungs- und Kontrollmaßnahmen von polnischer Seite aus verschärft. Zurück in die Ukraine geht es dagegen schneller. Medyka-Schehyni ist ein beliebter Grenzübergang zur Abschiebung von Flüchtlingen aus Polen. Auch die ukrainische Seite ist sich ihrer Rolle bei der Grenzüberwachung bewusst. In den Zeitungen finden sich fast jeden zweiten Tag Meldungen über Personengruppen, die in den Karpaten oder bei Medyka aufgegriffen wurden und keine Papiere bei sich hatten.

Die Kommentare in der polnischen und ukrainischen Presse nach dem Vorfall an der Grenze spiegeln die Beziehung der beiden Länder zur europäischen Union. Während Polen schon so gut wie dazu gehört – wenige Tage zuvor hatte der Premier Leszek Miller in Athen den Vertrag zum Beitritt zur Europäischen Union unterschrieben –, will die Ukraine auf dem Weg dorthin keine Fehler begehen. Die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza räsoniert daher darüber, ob man im Rahmen des Beitritts den schäbigen Fußgängerübergang in Medyka-Schehyni nicht gleich ganz schließen sollte, da er schließlich sowieso nur von »Schmugglern« benutzt werde. Der polnische Generalkonsul Krysztof Sawycki äußerte sich nur abwehrend. Zur Mentalität polnischer »Hools« könne er nichts sagen.

In den ukrainischen Medien wird dagegen vor allem besorgt über eine Verschlechterung der Beziehungen zu Polen diskutiert. Viele Ukrainer gehen davon aus, dass der Weg in die EU über Polen führt. Daher legt man es nicht darauf an, die Nachbarn zu verärgern. Als klar wurde, dass es sich bei den Festgenommenen um Polen handelte, machte sich Erleichterung breit. Für den Vorschlag, den Übergang zu schließen, fehlt in den ukrainischen Kommentaren allerdings jedes Verständnis.

Wenn auch dort in Kürze das Schengener Abkommen in Kraft tritt, wird es sowieso noch schwieriger werden, den Kleinhandel aufrechtzuerhalten. Dann werden Visa für Polen und Ukrainer eingeführt. Das zieht für alle Bewohner der Region einen erheblichen bürokratischen und finanziellen Aufwand nach sich. Bei 150 Hryvna (27 Euro) Rente im Monat für einen Ingenieur kann man sich leicht vorstellen, was es bedeutet, ein Visum bezahlen zu müssen, beziehungsweise wie viele Säcke Nüsse eine ukrainische Bäuerin verkaufen muss, damit sich das Geld dafür lohnt. Entweder es werden direkt an Ort und Stelle unbürokratische Lösungen gefunden oder der Kleinhandel als die Existenz absichernde Tätigkeit ist am Ende. Aber auch die Schmiergeldvariante hat ihren Preis. Weitere Vorfälle sind also zu erwarten.