»Viele Grüne
denken neoliberal«

Wilhelm Achelpöhler

Auch bei den Grünen regt sich Protest gegen die Reformvorhaben der Bundesregierung. In der vorigen Woche meldeten sich grüne Gewerkschafter mit einer Anzeige in der taz zu Wort. Sie fordern »Solidarität statt Ausgrenzung« und sprechen sich gegen die Verwirklichung der Agenda 2010 des Bundeskanzlers Gerhard Schröder aus.

Der Kreisverband Münster gab den Anstoss für die Einberufung eines Sonderparteitages der Grünen zu diesem Thema, der am 14. und 15. Juni in Cottbus stattfinden soll. Mit dem Vorstandssprecher des Kreisverbandes, Wilhelm Achelpöhler, sprach Stefan Wirner.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte in der vorigen Woche im Deutschlandradio, sie gehe davon aus, dass die Grünen die Vorschläge Gerhard Schröders zum Umbau des Sozialstaats unterstützen, »weil sie für mehr Gerechtigkeit sorgen«. Klingt das nicht zynisch?

Ja, so klingt es. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe führt viele Langzeitarbeitslose in die Armut. Betroffen sind besonders Frauen, denen das Einkommen ihres Ehemannes angerechnet wird und die dann jede eigenständige Grundsicherung verlieren. Betroffen sind auch die Kinder von Arbeitslosenhilfeempfängern. Die Empfänger von Arbeitslosenhilfe mit Kindern erhalten bislang höhere Leistungen. Künftig würden noch mehr Kinder sozialhilfebedürftig.

Göring-Eckardt argumentiert gerne mit dem Begriff der »Generationengerechtigkeit«. Sie sagt, es könne nicht angehen, dass die Jüngeren den Älteren den Vorruhestand zahlen.

Hier geht es um das Vorhaben der Agenda 2010, dass älteren Arbeitnehmern die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt wird. Aber wer 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, der muss auch in dem Fall, dass er darauf angewiesen ist, für diese Leistungen einen Gegenwert erhalten. Von daher halte ich es für legitim, dass es eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer gibt. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer ist schon deshalb wenig praktikabel, weil man den älteren Arbeitnehmern ja gar keine Arbeitsplätze anbieten kann. Sie haben es auf dem Arbeitsmarkt sehr schwer.

Die Verwirklichung der Agenda 2010 soll ja zu mehr Beschäftigung führen.

Das soll durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors erreicht werden. Man will die Arbeitslosen aktivieren und kürzt ihnen deswegen die Leistungen, damit sie endlich anfangen, für niedrige Löhne zu arbeiten. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat gesagt, es gebe viele Beschäftigungsmöglichkeiten in Familien, wo man etwa die Oma pflegen könne, und wenn die Arbeitslosen endlich dazu bereit wären, dann würde auch Beschäftigung im Niedriglohnsektor geschaffen. Ich halte dies aber nicht für die richtige Form von Arbeitsplätzen. Wir brauchen reguläre Beschäftigungsverhältnisse.

Warum unterstützen die Grünen so unsoziale Vorschläge?

Viele glauben, dass Niedriglohnsektoren die Zukunft der Volkswirtschaft darstellen. Während das Thema Steuererhöhung mit einem Tabu belegt wird, scheut man nicht davor zurück, den Langzeitarbeitslosen mehrere Milliarden Euro zu nehmen. Die einen Grünen glauben an solche neoliberalen Konzepte, die anderen haben vielleicht Angst davor, dass andernfalls die SPD das Geschäft mit der CDU machen würde.

Warum setzt die grüne Bundestagsfraktion den Kampagnen der Wirtschaft, auch der FDP gegen die Gewerkschaften nichts entgegen?

Wenn man sich so ansieht, was in der Bundestagsfraktion an wirtschaftspolitischen Vorstellungen zum Besten gegeben wird, muss man sagen, es gibt da tatsächlich eine starke neoliberale Strömung, die etwa eine Steuerreform auf den Weg brachte, die dazu führte, dass die Kommunen kein Geld mehr haben. Arbeit gäbe es genug in den Kommunen, doch die Gemeinden sind pleite. Das ist eine klassische neoliberale Politik.

Sind die Grünen doch die Öko-FDP geworden?

Nein, ich glaube, dafür herrscht langfristig kein Bedarf in Deutschland.

Wenn Göring-Eckardt den Gewerkschaften eine »Blockadehaltung« vorwirft, klingt das doch sehr nach FDP.

Die Wortwahl ist sehr ähnlich. Unsere Initiative aber zielt darauf, dass es nicht das letzte Wort der Partei ist.

Welche Chancen räumen Sie den Gegnern der Agenda 2010 auf dem grünen Sonderparteitag ein?

Wir haben mit unserer Initiative dazu beigetragen, dass über dieses Thema wieder gestritten wird. Wir haben das Monopol unserer neoliberalen Freunde in der Bundestagsfraktion auf die Außendarstellung der Partei ein wenig angekratzt.

Schröder hat sein politisches Schicksal mit der Verwirklichung der Agenda 2010 verknüpft. Müssen Sie sich am Ende mit kleinen Korrekturen zufrieden geben, um die Koalition nicht zu gefährden?

Zufrieden geben müssen wir uns gar nicht. Es mag sein, dass es nur zu kleinen Korrekturen kommt, aber das wäre dann nichts, was wir mitragen könnten. Dass so ein Konzept vielleicht nur mit einer derartigen Machtdemonstration in der SPD und bei den Grünen durchgesetzt wird, halte ich auf Dauer für nicht tragfähig.

Wenn man Schröder zuhört und seinem Gebrauch des Wortes »Reform«, erinnert das ja schon sehr an die letzten Jahre der Ära Helmut Kohls. Da musste man auch zittern, wenn von »Reformen« die Rede war.

Das ist das Ärgerliche. Der Begriff Reform ist heutzutage ein Alarmsignal für die armen Menschen im Lande, dass sie sich schnell an das Portemonnaie fassen müssen, damit das Geld nicht rausgenommen wird. Dabei gibt es viele positive Reformvorschläge, für die Rot-Grün ja wiedergewählt wurde.

Welche denn?

Zum Beispiel die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherung, damit auch andere Einkommen einbezogen werden. Oder dass wir bestimmte Privilegien angehen, etwa die private Krankenversicherung. Wir wollen die Arbeitnehmerrechte stärken in den Betrieben und sie nicht schwächen durch die Einschränkung des Kündigungsschutzes.

Es gibt Betriebe mit 20 oder 30 Beschäftigten, in denen bald überhaupt kein Kündigungsschutz mehr existiert, weil es dort viele befristet Beschäftigte gibt und nur einen kleinen Teil Unbefristete. Wie soll es da selbstbewusste Gewerkschaften und Betriebsräte geben? Das ist eine Umverteilung der Macht in den Betrieben.

Es wird auch behauptet, die Lockerung des Kündigungsschutzes werde zu mehr Einstellungen führen.

Das ist ein Irrglaube. Faktisch ist es so, dass die Unternehmen die Möglichkeit der befristeten Einstellung nutzen, um die Probezeit für Neueingestellte zu verlängern. Die befristete Einstellung ist in vielen Wirtschaftsbereichen die Regel. Neue Arbeitsplätze werden dadurch nicht geschaffen. Clement hat einmal angedeutet, dass er das auch eher für eine symbolische Aktion hält.

Die Arbeitslosigkeit ist wieder stark angestiegen. Was wurde falsch gemacht?

Zunächst mal liegt das Problem nicht bei den Arbeitslosen. Wir haben in Nordrhein-Westfalen 900 000 Arbeitslose, und für die gibt es 74 000 offene Stellen. Mit der Aktivierung und Vermittlung von Arbeitslosen kommt man da nicht weiter. Man muss mehr Arbeitsplätze schaffen, indem die Kommunen wieder eine stärkere Rolle spielen, und man muss Arbeit besser verteilen, also die Arbeitszeit verkürzen.

Könnten Sie sich vorstellen, persönliche Konsequenzen zu ziehen, sollte die Agenda verwirklicht werden?

Ein Parteiaustritt kommt für mich nicht in Frage. Die Auseinandersetzung wird ja weitergehen, denn die Agenda wird die Probleme nicht lösen. Uns geht es darum, erstmal einen Gegenpol zu dem zu bilden, was in der Bundestagsfraktion vertreten wird.