Wie die Liebe

Die 49. Kurzfilmtage von Oberhausen. von michael girke

Die ersten öffentlich und gegen Geld gezeigten Filmbilder, um 1895 von den Brüdern Lumière gedreht, dokumentieren die Einfahrt eines Zuges in einen Bahnhof. Arnaud Debrèes am ersten Oberhausener Festivaltag laufender Film »L’ enfant de la Ciotat« führt zu diesem Anfang des Kinos zurück. Der kleine Sohn eines Bahnhofsvorstehers filmt mit seiner primitiven Kamera vorbeifahrende Züge und Gespräche, die er mit seiner verblichenen Mutter führt. Er dokumentiert die Welt, die er mit ihr nach ihrem Tod bewohnt. Der Vater vertritt das Realitätsprinzip, die Ökonomie, das Gesetz; er möchte dem Sohn das Filmen ausreden, weil der sich darin zu verlieren droht. »Der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit«, schrieb Sigmund Freud. »L’enfant de la Ciotat« ist Kurzfilm als Filmkritik. Debrèe wirft den Lumières und den gängigen Dokumentarfilmen vor, dass ihr Realismus keiner ist, weil er nicht Unsichtbares, Vorstellungen, Träume als Bestandteile der Wirklichkeit zeigt. Und so ist Debrèes Realismus anders als der übliche: Die Realität erscheint schwarzweiß, das Fiktive farbig.

Luis Buñuels Name ist für alle Zeiten verbunden mit dem schockierenden Schnitt in ein Auge in »Der andalusische Hund.« Die Filmgeschichte verbucht ihn als den Regisseur der Surrealisten, als Klassiker des Kinos. Buñuels Selbstbeschreibung fällt weniger pathetisch aus. »Wir gingen in die Bistros, in denen die Flaschen alle nebeneinander in einer Reihe stehen, und fingen bei der ersten an und hörten weit hinter 20 auf.« Ins Kino geht er, »weil man dort ungesehen seine Begleiterin befummeln kann«. Hochgestochenes verachtet er, er mag nur Lachfilme, Buster Keaton und die Marx Brothers. Was passiert, wenn so einer einen Dokumentarfilm macht? In Oberhausen lief »Las Hurdes«, Buñuels 1932 gedrehter Film über die gleichnamige spanische Provinz. Was im »Andalusischen Hund« der Schnitt ins Auge ist, sind in »Las Hurdes« Hunger, Elend, Grausamkeit, Hoffnungslosigkeit sowie die Allgegenwart von Krankheit und Tod: etwas, das es gibt und das selbstverständlich gezeigt wird. Nach Fertigstellung wird »Las Hurdes« von spanischen Linken, Republikanern und Faschisten als amoralisch verboten. Das Schicksal dieses Films bringt es an den Tag: Es scheint einen allgemeinen Konsens zu geben, im Kino einen Blick nicht zuzulassen, der genau ist und ohne jede Symbolik auskommt. Moral, Pädagogik, Religion, Faschismus, Kommunismus, Liberalismus – aus Sicht des Kinos sind das nur andere Namen für Zensur.

Man sollte im Kino seinen Einfällen misstrauen, belässt man es bei ihnen, verurteilt man Filme zur Bebilderung der eigenen Oberflächlichkeit. »Ressonancia« von Lara Arellano beginnt mit Kamerafahrten durch Großstadtschluchten. Sequenzen, wie man sie aus diversen Techno-Videos der neunziger Jahre kennt. Sie suggerieren ein modernes, schnelles Lebensgefühl. Ein genauer Blick aber ergibt: In »Ressonancia« dienen die Bilder nicht, wie so oft, illustrativen Zwecken, und die Musik dient nicht der Untermalung, sie hat eine autonome Funktion. Arellano porträtiert die Stadt Buenos Aires, aber sie will nicht lokale Bedingungen objektiv zeigen. Denn Objektivität ist ein Phantombegriff, ein Erzählschema. Hält man sich daran, entsteht noch ein touristischer Werbefilm oder noch eine ethnologisch-politische Reportage. Das Zeug also, mit dem TV-Sender Realität konfektionieren bis zur Unkenntlichkeit. Arellanos Film hat man nicht gesehen, wenn man den Bildern nicht lauscht und die Tonspur nicht sieht. Geräusche und Klänge von Motoren, Bäumen, Instrumenten, Stimmen, Flüssen, Bahnen sind die Hauptdarsteller. Man muss Buenos Aires mit den Ohren sehen. Bilder von Berlin, London, Tokio müssten sich ganz anders anhören.

Scheiß Oberhausen-Ideologie. So beschimpften Klaus Lemke, Rudolf Thome und Max Zihlmann in den sechziger Jahren das Festival. Als der neue deutsche Film das verlogene Weltfluchtkino der Eltern aus den Lichtspielhäusern fegen wollte, entlarvten Lemke und Co. das junge Kino als seinerseits verkniffen und ideologisch. Gefragt, was sie damals verband, antworten die drei: Wir waren naiv, wir wollten leben, wie wir es in den Filmen von Godard, Hawks, Hitchcock gesehen hatten. Den drei Regisseuren Lemke, Thome und Zihlmann, »Münchener Gruppe« genannt, war in Oberhausen eine Hommage gewidmet. Ihre Filme sind gebaut, wie die Liebe, die sie zeigen. In Ziehlmanns »Frühstück in Rom« wird eine Heirat sorgfältig geplant. Wie bei guten Bürgern. Als es so weit ist, legt man sich lieber nicht fest und macht mit dem weiter, was alle Filme der Drei in losen Szenen aneinander reihen: Musik hören, Pot rauchen, flirten, saufen, endlos übers Kino reden. Diese Filme belegen: Wenn man amateurhaft Vorbilder kopiert, entsteht etwas ganz Eigenes. Das politische Autorenkino von Alexander Kluge und Jean Marie Straub/ Daniéle Huillet wurzelt ebenfalls im München der sechziger Jahre. Dass beide Richtungen sich feindlich gegenüberstehen, ist dem Narzissmus der Macher geschuldet und Coolnessmodellen, denen hiesige Filmfreunde kritiklos anhängen. Im Grunde zeigen Lemkes Hallodri-Filme und das radikal ernste Straub-Kino dasselbe: Wie schön Menschen in dem Augenblick werden, in dem sie sich ökonomischem Zwang widersetzen.

Laut Tobias Wendl, der in Oberhausen ein Referat hielt, feiern Filme aus Ghana und Nigeria große Erfolge in Afrika. Er zeigte einige Beispiele. Hier eine Inhaltsangabe: Ein Tier verwandelt sich in einen Mann, der umgehend eine Frau erwürgt, um dann selbst geschlachtet zu werden. Seine Hand lebt abgetrennt weiter und überzieht die Welt mit blutigen Exzessen. Einige im Publikum kicherten angesichts des Gezeigten. Ihr hämisches Grinsen entspringt der Kultur des Westens, die das Geld und die Technologie hat, das Hirnrissige ihrer Kino- und TV-Filme glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die ghanaisch-nigerianischen Filme sind Horrorvideos, billig und schnell produziert. Aber sie sind keineswegs gedankenlos oder trivial. Sie machen Relationen und Spannungen zwischen Kulturen sichtbar. Sie sind vollgestopft mit afrikanischen, christlichen, islamischen Motiven, mit Aberglauben und Ängsten, mit Emotionen, die ihre Macher beim Sehen von Hollywood-Horror und indischen Melodramen hatten. Filme aus Fertigteilen, aus kulturellen Stereotypen. Filme wie Hiebe in die Gesichter derjenigen, die Afrika nur als »authentische«, lebenslustige Folklore oder als Gegenstand ihres Mitleids respektieren können. Von Afrikanern für ein afrikanisches Massenpublikum produziert, belegen diese Filme ein offenes Kinogeheimnis: Billige, grausame B-Filme, in denen all das gesammelt ist, was die offizielle Kultur verdrängt, sind mitunter wirkliches Emanzipationskino.

Jeder Gast ein Ereignis. Zum Festivalbeginn diskutierte Prominenz die Verantwortung von Kultur in Kriegszeiten. Dieser Abend, sein Pathos, wurde zu Recht viel gescholten; er war aber auch gerechtfertigt. Weil Medien festgefügte Vorstellungen von A- und B-Ereignissen haben, rufen Kurzfilme allein nie solche Echos hervor. So gab die Berichterstattung dem Festivalleiter in der Ablehnung noch Recht. Die »kleinen« Oberhausen-Filme aber widersetzen sich. Unseren Worten und Thesen zum Film sowie der Ereignisproduktion von Kulturbetrieb und Presse. Sie sehen die Welt genauer, als sie es gewohnt ist.