Wir sind da. Und da auch

Peter Strucks neue verteidigungspolitische Richtlinien erklären, warum die Bundeswehr nicht mehr zur Landesverteidigung gebraucht wird, sondern für Einsätze in aller Welt. von thorsten fuchshuber

In der heutigen Welt gibt es keine nationalen Friedensoasen mehr.« Dieser Satz ist eine banale Feststellung. Wird er jedoch von einem deutschen Verteidigungsminister ausgesprochen, kann er zu einer Drohung werden. »Unsere Sicherheit wird auch an anderer Stelle dieser Erde verteidigt«, fügte Peter Struck hinzu, um Missverständnisse auszuschließen.

In der Tat lassen die neuen Richtlinien der Bundeswehr, die Struck am vergangenen Mittwoch in Berlin vorstellte, keinen Raum für Zweifel. Die Konzentration auf die Landesverteidigung ist passé, Auslandseinsätze bestimmen von nun an die strategische Ausrichtung der deutschen Armee. Künftige Einsätze ließen sich »weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geographisch eingrenzen«, lautet eine der wichtigsten Aussagen des Papiers, das erstmals seit 1992 neue Vorgaben für die Bundeswehr aufstellt. »Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes.«

Eine »Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte« gebe es »derzeit und auf absehbare Zeit nicht«, dafür aber »asymmetrische Gefährdungen« wie »religiös motivierten Extremismus und Fanatismus«. Der internationale Terrorismus bedrohe die »Errungenschaften moderner Zivilisation«, wie etwa »Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt«.

Um diese Güter vor allem in Deutschland zu bewahren, sehen die verteidigungspolitischen Richtlinien auch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vor, was selbstverständlich im Einklang mit dem Grundgesetz stehen soll. Auch für die internationalen Einsätze sei eine verfassungsrechtliche Klärung »nicht erforderlich«, betonte Struck. Zum Glück. »Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und –mitteln zusätzlich verwundbar«, heißt es in den neuen Richtlinien.

Auch wenn diese Gefahrenszenarien sich in einigen Punkten mit der US-amerikanischen Sicherheitsdoktrin decken, dürfte das deutsche Äquivalent den Strategen in Washington einige Sorgen bereiten. Denn während die darin enthaltenen Verweise auf das transatlantische Bündnis eher Bekenntnischarakter haben, werden für die angestrebte Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) konkrete Maßnahmen genannt. Von einer eindeutigen Ausrichtung auf die Verteidigungsunion will man im Verteidigungsministerium allerdings nichts wissen. Auf die Frage nach einer möglichen Abkehr vom transatlantischen Bündnis »verbietet sich mir eine Antwort«, sagte ein Sprecher der Behörde.

Die Richtlinien lesen sich jedoch anders. Deutschland habe bei der Ausgestaltung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den vergangenen Jahren eine Schlüsselrolle gespielt, heißt es darin; das politische Ziel sei eine eigenständige europäische Handlungsfähigkeit. Das bedeutet nichts anderes als die strategische und rüstungsindustrielle Abkopplung von den USA. Diese soll unter anderem mit einer europäischen Rüstungskooperation in die Tat umgesetzt werden, wie auch auf dem Treffen der Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg Ende April in Brüssel (Jungle World, 20/03) bekräftigt wurde. In dieser Hinsicht erscheinen Teile der Bundeswehr-Richtlinien wie eine Blaupause der Brüsseler Erklärung.

So soll die nationale Rüstungsindustrie zur Zusammenarbeit mit anderen europäischen Konzernen gedrängt werden, um die teuren nationalen Alleingänge in der Entwicklung und Herstellung von Waffensystemen (Jungle World, 16/03) zu beenden. Bereits jetzt sei die Rüstungskooperation effizienter geworden, die »Arbeiten zu einer europäischen Rüstungsagentur werden vorangetrieben«.

Damit Mehrfachbeschaffungen der europäischen Armeen vermieden werden, wird außerdem der Verzicht auf einzelne militärische Fähigkeiten in Betracht gezogen, falls andere EU-Länder über diese bereits verfügen. Um dem Ziel einer schlagkräftigen europäischen Armee näher zu kommen, soll sich die Bundeswehr auch finanziell auf »militärische Kernfähigkeiten« konzentrieren. Entsprechende Investitionen werden mit einer Umschichtung innerhalb des Wehretats möglich.

Eine dieser Kernfähigkeiten, im Militärjargon als »strategische Verlegung« bezeichnet, soll mit dem Großraumtransporter A400M erlangt werden. Ganz im Sinne Strucks bewilligte der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen noch am selben Mittwoch die Anschaffung von 60 Airbus-Maschinen für etwa 8,3 Milliarden Euro. Für weitere Anschaffungen muss das Verteidigungsministerium bis zum Jahr 2014 knapp 46 Milliarden Euro locker machen.

Als ersten Schritt zur Finanzierung gab Struck bei dieser Gelegenheit die Schließung von sieben Standorten der Luftabwehr bis Ende 2004 bekannt, drei weitere Stützpunkte sollen im Jahr 2005 folgen. Mit dieser Maßnahme will er rund eine Milliarde Euro einsparen.

Die Landespolitiker der betroffenen Regionen reagierten darauf, als hätte Struck ihnen persönlich den Krieg erklärt. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) erkannte in der Ankündigung ein »überfallartiges Vorgehen«, sein niedersächsischer Parteifreund und Amtskollege Christian Wulff sprach gar von einem »Schlag gegen die Küstenregion«. Beide fürchten schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für die umliegenden Gemeinden.

Eine freundlichere Resonanz hätte Struck vermutlich erhalten, wenn er davon abgerückt wäre, den Bundeswehrübungsplatz bei Wittstock in Brandenburg in Betrieb zu nehmen. Doch eine Entscheidung über das »Bombodrom« steht noch aus. Beim Besuch Strucks in Wittstock am vergangenen Donnerstag demonstrierten erneut 700 Menschen gegen die Nutzung des Geländes durch die Bundeswehr.

Um das Geld für die Bundeswehrreform aufzutreiben, kennt Strucks Fantasie keine Grenzen. Anfang vergangener Woche griff er eine Idee des italienischen Verteidigungsministers Antonio Martino auf. Dieser hatte vorgeschlagen, die Investitionen im Wehretat der jeweiligen Mitgliedsländer der EU von der Berechnung des Haushaltsdefizits auszunehmen. Die Folge wäre, dass Deutschland die Defizitgrenze von drei Prozent, wie sie im Vertrag von Masstricht festgelegt wurde, nicht überschritte. Struck könnte dann auf eine Erhöhung seines Etats hoffen.

Trotz der neuen Ambitionen der Bundeswehr will er an der allgemeinen Wehrpflicht festhalten. Lässt man die üblichen Floskeln vom »Staatsbürger in Uniform« beiseite, lautet das wichtigste Argument, es sei zwar unwahrscheinlich, aber dennoch nicht unmöglich, dass die territoriale Integrität der Bundesrepublik in Zukunft wieder von konventionellen Streitkräften bedroht werde. Dann müsse der »Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung« gewährleistet sein.

Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, sieht das anders. Bis zum Ende des Jahrzehnts müsse das Personal mit Profis aufgebaut werden, erst dann könne man auf die Wehrpflicht verzichten, sagte er dem Südwestfunk.

Die Grünen halten indes an ihrer Forderung nach einer Abschaffung der Wehrpflicht fest. Nur ihre Argumentation haben sie modernisiert. So gab der verteidigungspolitische Sprecher der Partei, Winfried Nachtwei, zu bedenken, dass durch die Wehrpflicht ungefähr ein Drittel der Soldaten von Auslandseinsätzen abgehalten werde. Vielleicht lässt sich Peter Struck ja von ihm überzeugen, schließlich weiß niemand besser als die Grünen, dass sich deutsche Friedensoasen meist als Fata Morgana entpuppen.