Wo ist das Geld?

In Buddy Giovinazzos Roman »Potsdamer Platz« scheitert die amerikanische Mafiagewalt am neuen Berlin. von ambros waibel

Sprechen wir nicht von Hardy. Zwar ist Hardy erklärtermaßen tot (»er war nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ich ihm das Hirn aus dem Schädel blies«), aber allein die Vorstellung, dieser irre, ultrabrutale Mafia-Killer, dem sogar seine Kollegen »unamerikanisches Verhalten« bescheinigen, liefe doch noch irgendwo in Berlin herum, muss beunruhigen.

Sprechen wir also lieber von Tony. Tony ist der andere Mafioso (»Was machst du hier?« »Ich bringe Leute um.« »Gefällt dir das?« »Mitunter.«), der Mann, der uns von Hardy befreit hat. Tony und Hardy sind Riccardo Montefiores Vorauskommando in Berlin. Wir schreiben das Jahr 1995, und der Mob aus Newark, New Jersey (»Von wo genau kommst du?« »Newark, New Jersey.« »Hab ich noch nie gehört.« »Da bist du nicht die Einzige.«) ist auf Globalisierungskurs. Montefiore sagt: »Das Wichtigste im Leben ist Sicherheit, Tony. Doch je enger die Welt wird, desto schwieriger wird es auch, für sich und seine Familie zu sorgen. Darum müssen wir umdenken und die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Wir müssen global denken. Da draußen liegen Milliarden von Dollar, die nur darauf warten, geerntet zu werden. Milliarden!«

Dass die Mafia eine Affinität zu Großbaustellen hat, weiß man ja nicht nur aus den einschlägigen Filmen. Am 28. September 2001 etwa titelte die New York Post: »Mafia plündert WTC.« Die Polizei hatte auf drei Schrottplätzen 150 Tonnen Schwermetall entdeckt, die Lastwagen einer der Mafia zugerechneten Baufirma auf ihrem Weg von Ground Zero dorthin umgeleitet hatten. Ihr eigentlicher Bestimmungsort war eine still gelegte Müllhalde, wo aller Schutt sortiert und nach menschlichen Überresten und Hinweisen durchsucht werden sollte.

Der Potsdamer Platz, einst als größte Baustelle Europas beworben, bietet also ein schlüssiges Ziel für angestrebte Abzockereien. Eine dort engagierte türkische Baufirma aus Kreuzberg, deren Chef mit Montefiores Frau verwandt ist, bittet den amerikanischen Freund um Unterstützung gegen die konkurrierende Russen-Stasimafia. Noch Fragen? »Warum habt ihr nie damit gedroht, zur Polizei zu gehen? Vielleicht hätte sie das abgeschreckt?« »Wir sind Ausländer! Du glaubst, die würden uns helfen?« Warum eigentlich nicht? Darum nicht: »Wie ein Ziegelstein saß der Kopf auf der steifen grünen Uniform; Augen, kalt wie Chrom, dazu Lippen, die wie zwei vertrocknete Würmer unentschlossen aufeinander klebten.« Okay.

Sprechen wir im Folgenden nicht von den abscheulichen Details (Hardy!). Jedenfalls scheitert die feindliche Übernahme – denn selbstverständlich ist das Hilfsangebot Montefiores höchst eigennützig – der Newarker Gang gründlich. Die Russen sind zu entschlossen, es ist ihr Hinterhof; und die Türken sind nicht so unterwürfig und so freundlich-naiv, wie sie sich geben, wie es Montefiores Gang (und manch andere) gern hätte; und Tony weiß es von Anfang an: »Wir können nicht gewinnen. Ich weiß es, du weißt es, und die wissen es auch. Die Firma hat hier keine Chance. Wir hätten niemals herkommen sollen.«

Sprechen wir also von Tony. »Potsdamer Platz« ist nicht zuletzt der Entwicklungsroman eines Killers, der keiner mehr sein möchte, der es vor allem aber nicht mehr sein kann, der es nicht mehr bringt. Dass er den Absprung nicht allein schafft, sondern bei einem Auftrag die Studentin Monika aus Prenzlauer Berg trifft (bzw. überfährt) und sie zum Rettungsengel stilisiert, ist sein Verhängnis: »Eure Welt ist ein gottloser, verwaister Ort! Ein Ort, wo man töten und terrorisieren kann, wo man unschuldige Kinder ermordet und dann glaubt, ein normales Leben mit einer Studentin führen zu können. Als würde die eine Handlung die andere nicht vergiften.«

»Potsdamer Platz« ist ein Thriller mit vielen Pointen, die Pointen bleiben sollen. Sprechen wir also lieber von Berlin. Mit dem genauen, filmischen Blick durchleuchtet der 1960 in Staten Island geborene Regisseur und Schriftsteller Buddy Giovinazzo seine Wahlheimat: »Ost-Berlin ist wie die Lower East Side, nur ohne Verbrechen. Es ist eine der schönsten Städte, in denen ich jemals war«, sagt er im Interview. Der Mafia-Ausflug startet am Flughafen Tegel (»Shit, der ist ja kleiner als Newark«), führt zunächst nach Kreuzberg: »Die Straßen waren voller Frauen mit Kopftüchern und in langen Gewändern, Kinder mit dunklem Teint spielten Fußball auf einem Platz, an dem auch alte Männer mit grauen Bärten Obst und Gemüse aus dem Kofferraum ihrer Autos verkauften. Überall liefen Hunde frei umher und vor jedem Lokal standen Tische und Stühle, saßen junge Leute, tranken Kaffee und unterhielten sich; es schien, als hätte die Welt ihre Geschäftigkeit für einen Moment eingestellt, um ein wenig Luft zu holen. Hardy starrte aus dem Fenster und sagte: ›Scheiße, wo zum Teufel sind wir? Downtown Kairo?‹« Der erste Auftrag führt nach Osten. »Hardy zeigte auf einen hohen schmalen Turm mit einer dicken silbernen Kugel in der Mitte und meinte, der sehe aus, als wolle er gerade zum Mars starten.« Und dann immer weiter nach Osten: »Wir fuhren in einen Stadtteil, der Köpenick hieß. Er lag südöstlich von Marzahn und sah aus wie Beirut an einem trüben Tag: Ruinen, geschlossene Läden, das Kopfsteinpflaster der Straßen voller Schlaglöcher und Krater, alles schmutzig, alles grau, das Elend hing wie ein Atompilz über der gesamten Gegend.« Bis man endlich am Ziel, am Potsdamer Platz ist: »Es war die gewaltigste Baustelle, die ich je gesehen hatte! Es mußte sich hier um die Ausmaße von zirka zwanzig Straßenblocks in New York City handeln. Hier mußte gut eine Milliarde jungfräulicher Dollar nur darauf warten, endlich genommen zu werden.«

Das wohltuend Verwirrende an diesem Killerblick auf Berlin ist, dass all die als Party-Kulisse gefeierte Kaputtness hier einem schlichten Raster unterworfen wird: Wo ist das Geld, wo ist die Gefahr? Durch die Fenster großer, dunkler Limousinen, zwischen zwei Jobs, sieht Tony die Clubgänger nett, harmlos, unbeleckt und jung-dumm frühmorgens durch die Straßen ziehen. Und da, wo einem klar wird, dass Tonys sehnsüchtiger Blick einfach der des normalen, sauberen, ein wenig abgespannten Geschäftsmanns ist, der die verfallenen Häuser nicht als Location, sondern ausschließlich als Verwertungsobjekte zu betrachten gewohnt ist – da fällt einem ein, wie nett, harmlos, wie unbeleckt, wie jung-dumm die Mehrzahl dessen gewesen ist, was hierzulande seit den Neunzigern so als Berlin-Roman durchging, wie unangemessen den Vorgängen in dieser Stadt. Und denkt man Giovinazzo weiter, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die amerikanische Mafia allein deswegen in der deutschen Hauptstadt scheitern müsste, weil der Platz schon vergeben ist.

Sprechen wir also nicht weiter von Hardy und Tony, erzählen wir von Kirch, dem Bundestag und der Bankgesellschaft, erinnern wir an die gute alte Westberliner Baumafia. Lassen wir die Russen in ihren Baucontainern in Frieden! Let’s talk about Zehlendorf!

Buddy Giovinazzo: »Potsdamer Platz«. Maas-Verlag, Reihe Pulpmaster, Berlin 2003, 411 S., 13,80 Euro.