Das Habermas aller Dinge

Europa will das neue Amerika werden. von jörg sundermeier

Europa hat dem amerikanischen Verteidigungsminister einiges zu verdanken. Mit seiner Äußerung vom »alten Europa« hat Donald Rumsfeld den Gedanken an das »Haus Europa« tatsächlich wieder belebt. Vor allem in den beiden Ländern, die er als »Problem« bezeichnete – Frankreich und Deutschland.

Während in diesen Ländern auf Friedensdemos Sticker verteilt wurden, mit denen man sich versicherte, so stolz auf »old europe« zu sein wie weiland nur Glatzköpfe auf ihr Deutschtum, fanden auch die viel beschworenen Intellektuellen endlich zu ihrer Aufgabe, indem sie sich prompt in der FAZ ausließen. Jürgen Habermas etwa, der seit 1998 den Regierungsphilosophen Deutschlands gibt, sagte im Januar über Rumsfeld: »In der Kritik seiner europäischen Freunde begegnen ihm die preisgegebenen eigenen, die amerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts. Aus dem Geist dieser politischen Aufklärung sind ja die Menschenrechtserklärung und die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen, sind jene völkerrechtlichen Innovationen hervorgegangen, die heute in Europa eher Anhang zu finden scheinen als in der ziemlich alt aussehenden Neuen Welt.« Und Jacques Derrida meinte am selben Ort: »Ich finde einen solchen Ausspruch schockierend, skandalös und bezeichnend. Bezeichnend für die Unkenntnis darüber, was Europa war, was es ist und sein wird. Die Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers macht wohl unfreiwillig gerade deutlich, wie dringlich die Aufgabe der europäischen Einigung ist.«

Doch Habermas’ und Derridas Worte blieben ohne Resonanz, denn man war sich in Deutschland und Frankreich bereits so einig, dass sich die Beiträge der Philosophieprominenz nicht von den Statements auf der Straße unterschieden. Die großen Worte also gingen einfach unter.

Daher warteten beide, bis sich der Trubel auf den Straßen legte. Sie warteten bis zum 31. Mai. An diesem Tag veröffentlichte die FAZ einen Text von beiden, der zugleich in der Pariser Libération erschien: »Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«. In La Repubblica äußerte sich gleichzeitig Umberto Eco, in der Neuen Zürcher Zeitung Adolf Muschg, in El País Fernando Savater, La Stampa veröffentlichte einen Text von Gianni Vattimo, und der Amerikaner Richard Rorty antwortete auf Habermas und Derrida in der Süddeutschen Zeitung. Habermas, der »Wortführer der Initiative« (FAZ) hatte die Idee zu diesem Spektakel, und Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien und die sich sonst stets zurückhaltende Schweiz wurden auf diese Weise Debattenorte.

Der Essay von Habermas und Derrida, der die Linie vorgibt, stellt eine Reaktion auf den so genannten Brief der acht dar, in welchem im Januar acht EU-Staaten bzw. EU-Beitrittsländer erklärten, dass sie die US-Außenpolitik unterstützen. »Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen ihren verblüfften Lesern von jener Loyalitätsbekundung gegenüber Bush Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpräsident die kriegswilligen europäischen Regierungen hinter dem Rücken der anderen EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebenso wenig den 15. Februar 2003, als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten«, schrieben Habermas und Derrida.

Die Demonstrationen würden »als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichte eingehen«. »Heute wissen wir, dass viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturwüchsigkeit Autorität heischen, ›erfunden‹ worden sind. Demgegenüber hätte eine europäische Identität, die im Licht der Öffentlichkeit geboren würde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willkür Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willkür.« Und für die neu geborene »europäische Öffentlichkeit« forderten sie eine »attraktive, ja ansteckende ›Vision‹ für ein künftiges Europa«.

Selbst jene Intellektuelle, die sich nicht unmittelbar ihrer Regierung verpflichtet fühlen, stimmten zu. So forderte der neu gewählte Präsident der Akademie der Künste in Berlin, der Schweizer Autor Adolf Muschg, ebenfalls ein selbstbewusstes, allerdings ein auf der spezifischen »Erfahrung« gegründetes Europa und nicht auf der »verblendeten Anmaßung, mit der es im 19. Jahrhundert die Welt zu repräsentieren glaubte und zu beherrschen strebte«. Richard Rorty, der amerikanische Gewährsmann dieser Europäer, schrieb gar, Europa »könnte nichts weniger als die Welt retten, es könnte leisten, was der amerikanischen Politik verwehrt ist«. Denn nur Europa könne die USA noch zähmen und die Uno als Institution bewahren.

Was die »Schar überwiegend philosophischer Köpfe« (NZZ) schrieb, sorgte allerdings nicht für die erhoffte große Debatte. Das hatte mehrere Gründe. Einer war, dass es selbst den verbohrtesten »Kerneuropäern« auffiel, dass Polen, die Slowakei und andere EU-Beitrittsländer von Habermas beinahe wieder aus der EU ausgeschlossen wurden. Zumal die Forderungen nach einem Kerneuropa, mit denen ein Wolfgang Schäuble in den Neunzigern noch Furore machen konnte, längst Realität sind, und es sich die Regierungen von Spanien, Belgien, Großbritannien oder Slowenien nur noch aussuchen können, ob sie sich der Meinung eines Europa, das aus nichts anderem mehr als Deutschland und Frankreich zu bestehen scheint, anschließen oder nicht. Wenn sie allerdings die Zustimmung verweigern, drohen Sanktionen, und sei es nur, dass sie von Habermas und Freunden nicht mehr zum Dialog eingeladen werden.

Desweiteren ließ eine Passage bei Habermas und Derrida an der Zurechnungsfähigkeit der »philosophischen Köpfe« zweifeln: »In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen ein solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfes für ›mehr soziale Gerechtigkeit‹ gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.« Angesichts der massiven Einschnitte, die für das französische und deutsche Sozialsystem gerade geplant sind, ist dieser Gedanke kaum zu begreifen.

Es sei denn, man nimmt ernst, was Habermas bereits im Januar sagte: Das von ihm erblickte Kerneuropa halte sich nun an die »amerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts«, während Amerika nun der europäischen Kolonialmacht gleiche, gegen die sich die amerikanischen Aufklärer einst aufgelehnt hätten. Die Friedensdemos, die unter Anleitung und Teilnahme deutscher und französischer Regierungsmitglieder stattfanden, sieht der alte Kommunikationsfan gemeinsam mit seinem französischen Freund für eine spontane demokratische Erhebung an, die, ganz im Sinne der Frühaufklärung, die Durchsetzung der Menschenrechte und der Klassengleichheit anstrebt. In Europa gründen sich demnach die neuen USA.

Nun wird das von Rumsfeld geschmähte »alte Europa« selbstverständlich gern gelobt. Während allerdings Habermas und Freunde mit Tränen der Rührung in den Augen auf die von ihnen ersehnte »Boston Tea Party« warten, versucht sich die EU in einer neuen militärischen Rolle und an neuer Sozialgesetzgebung, und wird von ihrer Bevölkerung nicht eben daran gehindert. Man sollte Habermas vielleicht darauf hinweisen, dass die amerikanische Verfassung auf einer Revolution gründet.