Der Líder und das Führerlein

Proteste in Kuba gegen die EU von jessica zeller

Wer geglaubt hat, dass Massenaufmärsche auf Kuba der Vergangenheit angehören, wurde am vergangenen Donnerstag eines Besseren belehrt. Rund 300 000, nach kubanischen Angaben sogar mehr als eine Million Menschen brachte Fidel Castro gegen die Sanktionen, die die EU knapp eine Woche zuvor gegen die Karibikinsel verhängt hatte, auf die Straßen Havannas. Die Union hatte mit Verweis auf die zunehmende Verletzung der Menschenrechte beschlossen, Kuba vorerst nicht in das AKP-Wirtschaftsabkommen aufzunehmen, diplomatische Kontakte zu reduzieren und die gemeinsame Position zu dem Land »einem Prozess der Neubewertung zu unterziehen«. Im April waren knapp achtzig Dissidenten verhaftet und drei Bootsentführer, die sich erfolglos auf den Weg in die USA gemacht hatten, zum Tode verurteilt worden.

Bereits um halb acht Uhr morgens zogen die Demonstranten, geführt vom »máximo líder« und seinem Bruder Raúl Castro, vor die spanische und die italienische Botschaft. Vorangegangen war der Demonstration eine 25stündige Mobilisierungskampagne auf allen kubanischen Fernsehsendern und Radiokanälen. »Einer muss bei einem Konsens immer den Takt angeben«, erklärte die kubanische Botschafterin in Spanien, Isabel Allende, warum zunächst nicht die ganze EU in die Kritik geriet. Die kubanische Regierung machte konkret zwei Schuldige aus. Der spanische und der italienische Regierungschef, José Maria Aznar und Silvio Berlusconi, waren die Schriftführer dieser »verräterischen und beschämenden Entscheidung«, so Allende.

Um diese Ansicht zu untermauern, stellte Castro einmal mehr seine rednerischen und satirischen Fähigkeiten unter Beweis. Während seiner Ansprache vor der italienischen Botschaft verglich er Berlusconi mit Mussolini und bezeichnete ihn schlicht als »Burlesconi«, was in etwa »Witzbold« bedeutet. Aznar nannte er wahlweise »Bandit, Clown, Feigling, Faschist und Führerlein«, bei dem nicht nur der Schnurrbart gewisse Assoziationen wachrufe.

Spanien hat zu der Karibikinsel traditionell eine besondere Beziehung. Mittlerweile ist das Land auch der größte ausländische Investor. Die Reaktionen auf Castros Auftritt fielen daher verhalten aus. Ministerpräsident Aznar ignorierte die Beschimpfung vollständig und Außenministerin Ana Palacio gab sich versöhnlich. Sie erklärte, man fühle sich »dem kubanischen Volk sehr nahe« und wolle sich an keiner »verbalen Eskalation« beteiligen. Der Sprecher der Vereinigten Linken im Parlament äußerte sogar nachdrücklich Verständnis für Castro.

Die EU und Kuba hatten erst Ende 2001 nach fünfjähriger Pause wieder diplomatische Kontakte aufgenommen. Hintergrund ist das Problem Kubas, nach dem 11. September von der US-Administration als Teil der angeblichen Unterstützer des Terrors angesehen zu werden und keinen großen Verbündeten in der Welt mehr zu haben. Da wandte man sich von Havanna aus an die EU. Zudem verspricht man sich vom europäischen Partner die Sicherung der stets wackeligen wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Erst im März wurde die EU-Vertretung auf Kuba feierlich eröffnet, und Investitionen in Höhe von 15 bis 20 Millionen Dollar wurden zugesagt.

Bei den Europäern scheint nun die Devise vorzuherrschen, erst einmal den Rückzug anzutreten und bis zur nächsten kubanischen Wirtschaftsflaute abzuwarten. Denn die Jahre nach dem Kalten Krieg haben gezeigt, dass in Kuba zwar noch große Worte geschwungen werden, die Sachzwänge des kapitalistischen Wirtschaftssystems jedoch längst in das realpolitische Handeln eingeflossen sind.