Und was kommt nach dem Neoliberalismus?

Auf einem Kongress in Hamburg wurde über Globalisierung, Regierbarkeit und Demokratie diskutiert. von andrej reisin

Große Teile des politischen Establishments glauben noch immer, mit neoliberalen Konzepten für den Aufschwung sorgen zu können. Während der Kanzler zur Zeit des Kongresses »Worlds of Capitalism«, der Ende Mai stattfand, noch damit beschäftigt war, seine Agenda 2010 in der SPD durchzusetzen, meldete ein Teil der in Hamburg versammelten WissenschaftlerInnen berechtigte Zweifel an.

So stellte Robert Brenner, Wirtschaftshistoriker an der UCLA und Herausgeber des New Left Review seine Analyse der US-Ökonomie in den Neunzigern in einem Vortrag mit dem hübschen Titel »Boom, Bubble, Bust« vor. Darin räumte er gründlich mit einigen Mythen der New Economy auf.

Mit Hilfe eines umfangreichen Zahlenwerks machte er deutlich, dass die gesamte US-Wirtschaft keinen signifikanten Aufschwung durch den angeblichen Boom des Neuen Marktes in den späten Neunzigern erfuhr. Vielmehr seien Bruttosozialprodukt, Profitrate und Wirtschaftswachstum insgesamt kaum höher gewesen als in den Achtzigern. Dies bedeute, dass »der große Abschwung«, die in den Siebzigern eingetretene Krise der Industrieproduktion, keineswegs überwunden sei. Gegenteilige Behauptungen bezeichnete er als Hypes und »neoliberale Fabeln«, die von Regierung und Notenbank entgegen ihren eigenen Zahlen erzählt würden.

Die neoliberale Umorganisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die im angloamerikanischen Raum mit Reagan und Thatcher begann, zeitige also keineswegs die Früchte von unbegrenztem Wachstum, die ihre Protagonisten und Propagandisten versprochen hätten. Im Gegensatz zur gängigen Annahme sei sie noch nicht einmal in der Lage, die Wirtschaftsleistung der Industrienationen signifikant zu steigern.

Michael Piore vom Bostoner MIT versuchte demgegenüber zu zeigen, dass die US-Wirtschaft weniger neoliberal funktioniert, als es zunächst den Anschein hat. Zwar versuchten die US-Regierungen seit Reagan via IWF und Weltbank global eine neoliberale Agenda durchzusetzen, der US-Binnenmarkt sei aber nicht ausschließlich nach diesem Muster strukturiert. Die Krise der fordistischen Produktion und des Keynesianismus ab 1973 fällt Piore zufolge nicht zufällig mit einer Krise derjenigen Institutionen zusammen, die maßgeblich zur Stabilität des alten Modells beigetragen hätten. So hätten parallel zum Niedergang der US-Gewerkschaften die aus den sozialen Bewegungen entstandenen »Interest Groups« ihren Einfluss enorm ausbauen können.

Es habe eine Verschiebung von kollektiven »labour identities« zu »social identities« gegeben, die entlang ethnischer, geschlechtlicher oder sexueller Kriterien konstruiert seien. Das individuelle Glücksversprechen des Neoliberalismus habe dabei unbewusst das bessere Angebot gemacht, selbst wenn die konkreten politischen Interessen kaum übereinstimmten.

Hinzu kommen die veränderten Strukturen des Kapitalismus. Die meisten Angestellten verweilen nur eine kurze Zeit bei einem Unternehmen, so dass sich der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Geld nur bedingt zu lohnen scheint. Gleichzeitig stellen Vorreiter wie Microsoft prinzipiell nur noch Projektteams zusammen, die dann die neueste Windows-Version entwickeln und anschließend die Company wieder verlassen.

Dank der Antidiskriminierungsgesetze mussten Unternehmen, denen widersprechende Einstellungs- oder Beschäftigungspraktiken nachgewiesen werden konnten, drakonische Strafen hinnehmen. Sie seien so gezwungen worden, Frauen oder African-Americans nicht länger zu benachteiligen. Der emanzipatorische Kampf gegen die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen am Arbeitsmarkt sei aber im Laufe der Zeit vom Management als Chance zur Produktivitätssteigerung erkannt worden.

»Celebrate Diversity«, der alte Slogan der Lesben-, Schwulen- und Transsexuellenbewegung, sei mittlerweile Teil der Firmenideologie weltweit agierender Unternehmen. Zudem hätten die unterschiedlichen »Interest Groups« im Vergleich zu den alten Gewerkschaften einen signifikant geringeren Organisationsgrad und seien praktisch nicht in der Lage, Arbeitskämpfe zu führen.

Ebenfalls mit dem Verhältnis von Kapitalismus und seiner Kritik beschäftigte sich die Pariser Sozioökonomin Eve Chiapello. In ihrem Vortrag »Der neue Geist des Kapitalismus« versuchte sie zu analysieren, wie es dem normativen kapitalistischen System immer wieder gelingt, die Kritik zu integrieren. Dabei ist die kritische Position nach Chiapello derzeit vor allem deshalb so schwach, weil es ihr bisher nicht gelungen sei, angesichts der veränderten Produktionsbedingungen angemessene Begrifflichkeiten zu entwickeln.

Erstaunlich unterbelichtet blieb in diesem Zusammenhang die momentan am deutlichsten wahrnehmbare, sich selbst als antikapitalistisch verstehende Bewegung, nämlich Attac & Co. Auch der Genderdiskurs interessierte die Veranstalter offenbar nicht, hatten sie doch nicht einen einzigen Vortrag zu dieser Thematik vorgesehen. Die Auswahl war entsprechend: Chiapello war unter 17 Rednern die einzige »Quotenfrau«.

Überhaupt ergeben sich zum Verhältnis von sozialen Bewegungen und Kapitalismus einige Fragen: Sind Emanzipationsbewegungen mutatis mutandis nichts weiter als Modernisierungsschübe? Produzieren sie gleichzeitig Effekte, die einer kapitalistischen oder zumindest neoliberalen Logik zuwiderlaufen? Oder haben Kapitalismuskritik und andere Befreiungsstrategien sowieso nichts miteinander zu tun?

Diese Fragen interessierten den Wirtschaftsnobelpreisträger Douglass North vom Think Tank Hoover Institute in Stanford natürlich nicht. In seinem abschließenden Vortrag räumte er angesichts von Armut, Gewalt und Umweltzerstörung immerhin ein, dass die bisherige Diskussion »terribly disappointing« gewesen sei. Keines der derzeitigen Modelle biete eine adäquate Beschreibung, geschweige denn Lösung an. Explizit verwies er auf den neoliberalen Vordenker Milton Friedman, der »uns auf den Holzweg geführt« habe. Wie man diesen wieder verlassen könnte, wusste er aber auch nicht.

Der ebenfalls anwesende Jürgen Habermas schimpfte zwar vor sich hin, ergriff das Wort aber nicht. Vielleicht bot die Konferenz nicht das erhoffte Forum für seine neue europäische Identitätspolitik. So blieb es dem skeptischen Robert Brenner überlassen, am Ende zusammenzufassen: »I’m no prophet, but if you ask me, things are going to get much worse.«