Wer bin ich und wo komme ich her?

Jeffrey Eugenides hat mit seiner Familiensaga »Middlesex« den Gender-Diskurs popularisiert. von andreas hartmann

Das, was Jonathan Franzen im letzten Jahr mit seinen »Korrekturen« gelang, scheint Jeffrey Eugenides in diesem Jahr geschafft zu haben. Auch er hat mit seiner großen Familiensaga »Middlesex« einen Bestseller geschrieben, der von der Kritik genauso mit Lob wie von den Lesern mit hoher Aufmerksamkeit bedacht wird. Dabei merkt man »Middlesex« durchaus an, dass sich der Autor des Romans jahrelang mit seiner Geschichte gequält hat. So locker hier erzählt wird, so lange dauert es doch, bis sich der Roman als die Gender-Prosa entpuppt, als die er im Allgemeinen rezipiert wird. Geschrieben wurde das Buch in Berlin, wo Eugenides, ein US-Amerikaner griechischer Herkunft, seit einiger Zeit mit seiner Familie lebt. Die deutsche Hauptstadt spielt in dem Roman zwar keine entscheidende, aber immerhin eine interessante Rolle. So wie in den zwanziger Jahren Berlin als Zentrum einer androgynen Szene galt, so erscheint Berlin nun wieder als die Stadt, die an diese Zeit anzuknüpfen vermag. Hier wird sich weniger darum gekümmert, ob du Junge oder Mädchen bist, als anderswo, suggeriert der Roman.

Konstruiertheit wurde »Middlesex« seitens der Kritik vorgeworfen. An manchen Stellen ist diesem Vorwurf zuzustimmen. Wenn etwa der Nachbar der Familie Stephanides, der einen Selbstmord vortäuscht, plötzlich als Schwarzenführer in Zeiten der »Rassenunruhen« in Amerika ganz unvermittelt wieder auftaucht, ist vielleicht ein wenig zu arg kunsthandwerklich gedrechselt worden. Andererseits geht es in diesem Roman ja gerade darum, die Dinge als Konstrukte zu entlarven, somit ist es nur folgerichtig, wenn sich auch »Middlesex« selbst als literarisches Konstrukt überdeutlich zu erkennen gibt.

Eugenides will mehr als nur das Schicksal des Mädchens Calliope erzählen, das beim Eintritt in die Pubertät feststellt, dass es anders ist als andere Mädchen in ihrem Alter, dass es vielmehr gar kein Mädchen, sondern eher Cal, der Junge, ist, auch weil es seine Freundin, das »Objekt«, nicht nur gerne hat, sondern sie sexuell begehrt; und dieses Ding da zwischen seinen Beinen, das da nicht hingehört, dieser erblühende »Krokus«, muss schließlich auch eine bestimmte Bedeutung haben. Eugenides beschränkt sich nicht auf diese Verwirrungen des vermeintlichen Mädchens bezüglich seines Geschlechts, sondern verkoppelt es mit den Wirrnissen in seiner Großfamilie, die vor Generationen, auf der Flucht vor dem türkisch-griechischen Krieg von 1922, von Griechenland in die USA emigrierte.

Die Frage nach der eigenen Identität wird somit nicht nur von Calliope hinsichtlich ihres Geschlechts gestellt, sondern wird auf einen Migrationsdiskurs ausgeweitet. Die »Wer bin ich?«-Frage stellt sich in dem Roman überhaupt andauernd. Desdemona und Lefty Stephanides, die Großeltern von Cal, sind eigentlich Geschwister. Noch bevor sie Amerika erreichen, sind die Geschwister, die gemeinsam in einem kleinen griechischen Bergdorf aufgewachsen sind, ein Paar. Denn noch während der Überfahrt heiraten die zwei, plötzlich ist dies möglich, weil sie niemand mehr kennt, und vielleicht auch, weil sie sich bereits dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten nähern. Aus den Geschwistern werden also Eheleute, doch vor allem Desdemona plagen fortwährend Gewissenbisse. Ist das auch wirklich recht? Bleiben die beiden nicht in Wahrheit für immer Geschwister?

Die einzige, die von der »Wer bin ich?«-Frage am Ende nicht zermürbt wird, ist erstaunlicherweise Cal. Weil sie/er es schafft, die Frage irgendwann einfach von sich zu weisen. Cal bekommt es hin, seine geschlechtliche Uneindeutigkeit positiv zu wenden, sich mit einem Sein als Hermaphrodit zu arrangieren. Hier, am Ende seines Romans, wird deutlich, dass Eugenides eine Art Gegenentwurf zu der vielleicht bekanntesten Geschichte eines Hermaphroditen anbietet, zum Fall des Herculine Barbin (1838–1868). Dieser wurde als Mädchen getauft, nach einer Krankheit wurde er jedoch von Ärzten als Mann definiert. Barbin geriet in den Strudel eines Skandals, durfte seine Geliebte nicht heiraten und nahm sich schließlich das Leben. Seine traurige Lebensgeschichte wurde später von Foucault ausgegraben und neu herausgegeben.

Für Foucault ist der Fall Barbin ein weiterer Beleg für die These, dass mit dem Fortschritt, den die Medizin und die Sexualwissenschaften im 19. Jahrhundert machten, das Elend für Menschen begann, die von der Norm abweichen. Allein schon deshalb, weil erstmalig überhaupt so etwas wie Normen festgelegt wurden. Doch anders als bei Foucault, der sagt, dass die medizinischen Machtapparate über das Subjekt bestimmen und die individuelle Handlungsfreiheit beschränken, bekommt Calliope bei Eugenides die freie Wahl, über ihre Identität zu bestimmen. Sie entkommt den Ärzten, die sie nach den Regeln ihrer Zunft zum Gegenstand ihres medizinischen Interesses machen und, ohne sie groß zu fragen, über ihr Schicksal – eine kleine Operation, und schon ist der Fall eindeutig – bestimmen wollen. Hier macht sich Eugenides stark für die Thesen von Judith Butler, die gerade in der gelebten Uneindeutigkeit die Chance sieht, dem Elend der binären Geschlechterkonzeption Mann/Frau zu entkommen.

Das Tolle an »Middlesex« ist, dass hier ein Bestseller den nur selten aus den akademischen Zirkeln herausgetragenen Diskurs um Gender und Sex popularisiert. Und nebenbei das Utopische im Denken Butlers affirmiert. In »Middlesex« werden entscheidende Fragen bezüglich der Konstruiertheit von Geschlecht im Fluss der Geschichte, beinahe wie dramaturgische Mittel, verhandelt und dezidiert aus einem akademischen Rahmen gelöst. Dieses Buch und seine Technik der Camouflage – Gender Studies als packender Roman verkleidet– lässt einen hoffen, dass die in der letzten Zeit etwas schläfrig wirkende Debatte über soziales und biologisches Geschlecht mittels einer Frischzellenkur neuen Schwung bekommt; Gender Studies für alle, und endlich auch als Stapelware! Der Hermaphrodit, der seit dem 19. Jahrhundert als Anomalie, als Abweichung, als Monster gilt, könnte zudem eine Neubewertung erfahren. Vielleicht nicht unbedingt als Ideal, wie ehemals in der griechischen Mythologie, aber zumindest als Mensch.

Jeffrey Eugenides: Middlesex. Rowohlt, Reinbek 2003, 816 S., 24,90 Euro