»Die Iraner wollen das Regime stürzen«

Aryo B. Pirouznia

Auch bei der gegenwärtigen Protestwelle im Iran stehen Studierende an der Spitze der Bewegung. Das SMCCDI (Koordinationskomitee der Studentenbewegung für Demokratie im Iran) betreibt ein Internet-Portal, das täglich vorwiegend in englischer und französischer Sprache Meldungen und Artikel, aber auch eigene Erklärungen veröffentlicht (Jungle World, 50/02).

Der 39jährige Jurist Aryo B. Pirouznia lebt und arbeitet in den USA, er ist Gründungsmitglied und Koordinator des SMCCDI. Mit ihm sprach Wahied Wahdathagh.

Täglich wird auf den Straßen der iranischen Städte demonstriert. Welche Ausmaße haben die Proteste?

Wir können sicher sein, dass im ganzen Land mehrere hunderttausend Menschen auf die Straßen gingen. Das ist ein Präzedenzfall. Genau diese massenhafte Unterstützung fehlte den Studenten im Juli 1999. Damals standen wir allein, denn die Menschen hofften auf die Reformen, die Präsident Khatami versprochen hatte. Deshalb konnte das Regime die Bewegung nach fünf Tagen zerschlagen.

Jetzt aber unterstützt die Bevölkerung die Studentenbewegung.

Ist die Protestbewegung seit 1999 radikaler geworden?

Wir haben alle die populären Parolen gehört. Die Demonstranten wollen das Regime stürzen. Sie haben genug von der Theokratie, glauben aber auch nicht mehr an die leeren Versprechen der Reformer. Die Iraner haben verstanden, dass wie in der früheren Sowjetunion wirkliche Reformen nicht im Rahmen des bestehenden ideologischen Regimes erfolgen können. Die Reformen, die wir meinen, sind mit dem System der Islamischen Republik nicht vereinbar. Menschen sind keine Hamster, aber selbst ein Hamster wird sein Laufrad verlassen und sich draußen umschauen, wenn der Käfig geöffnet wird. Wenn das Regime unter Druck Reformen zulässt, werden noch mehr Forderungen gestellt.

Hat die Protestbewegung auch soziale oder ökonomische Ziele?

Ja, es gibt auch solche Forderungen, aber die politischen Ziele stehen im Mittelpunkt. Denn es ist das Regime, das alle diese Probleme verursacht. Die Macht im Iran hat die Struktur einer Pyramide, alles wird von oben befohlen. Das betrifft sogar das persönliche Leben der Menschen. Die simplen sozialen Parolen des Jahres 1997 waren mit der Hoffnung auf Reformen verbunden. Jetzt wird ein Referendum für den Regimewechsel gefordert. Die Bevölkerung hat verstanden, dass dies der einzige Weg ist, ihr Recht einzufordern. Die meisten Iraner sind gezwungen, in zwei bis drei Jobs zu arbeiten, um überleben zu können. In der Nacht werden sie dann revolutionär. Die Proteste fanden oft nachts statt. Dieser Trend wächst und verbreitet sich in vielen iranischen Städten.

Das Regime hat mit einer harten Repressionswelle reagiert. Offiziell ist von etwa 400 Verhafteten die Rede.

Das ist ein Witz. Wir schätzen, dass mehr als 6 000 Menschen im ganzen Land verhaftet wurden. Allein in Teheran waren es über Tausend, die vorerst nicht freigelassen werden. Wenn jemand noch keine Akte hat und zum ersten Mal verhaftet wird, kann er damit rechnen, nach Prügeln und Folterung wieder freigelassen zu werden. Wir nehmen jedoch an, dass mehr als 6 000 Menschen in Haft bleiben müssen, denn sie sind schon mal bei Protesten aufgefallen, wurden festgenommen oder werden jetzt als besonders aktive Demonstranten eingeschätzt. Diese Menschen bleiben in der Regel für eine längere Zeit in den überfüllten Gefängnissen.

Im Iran findet eine überwiegend friedliche Revolution gegen ein Regime statt, das Angst vor der Zukunft hat. Das hat auch mit der Art zu tun, wie die Herrschenden ihre Gegner behandeln. Aber wir wollen den Frieden in unserer Gesellschaft etablieren und den Kreislauf der Rache und des Blutvergießens beenden. Deshalb befürworten wir eine Amnestie für die jetzt Regierenden. Wir wollen ein Beispiel für die gesamte Region geben und zeigen, dass wir friedlich das erreichen können, was wir mit kriegerischen Mitteln nicht schaffen.

Die Regierung wirft der Protestbewegung jedoch vor, im Dienste der USA zu stehen, deren Regierung die Anwendung kriegerischer Mittel nicht scheut. Wie sehen Sie die Rolle der USA und der anderen westlichen Staaten?

Die US-Regierung gibt den Protesten moralische Unterstützung. Die USA scheinen verstanden zu haben, dass es ihr eigenes langfristiges Interesse ist, in Demokratien im Mittleren Osten zu investieren. Niemand soll mehr die Möglichkeit haben, unter einem islamistischen Regime Anschläge wie die vom 11. September zu planen. Keine Demokratie erlaubt es, dass wahnsinnige Menschen wie in Afghanistan unter den Taliban einen Staat im Staate bilden und tausende unschuldiger Menschen für die Durchsetzung einer Ideologie töten.

Andere westliche Staaten, vor allem in Europa, unterstützen leider die so genannte Reformfraktion. Sie wollen ihre Investitionen im Iran sichern und haben Angst, dass ein Regimewechsel ihren Geschäften schaden könnte. Diese Staaten sollten wissen, dass wir nicht gegen Investitionen sind. Wir brauchen internationale Zusammenarbeit, aber eine solche Zusammenarbeit muss mit der iranischen Bevölkerung stattfinden und nicht mit einem mafiösen Regime, das vor dem Kollaps steht. Außerdem darf keine neokoloniale Herrschaft im Iran etabliert werden, die Zusammenarbeit muss für beide Seiten vorteilhaft sein. Ich glaube, dass für mehrere europäische Staaten die Zeit gekommen ist, ihre Positionen zu revidieren, wenn sie einen Platz im Iran von morgen haben wollen.

Die USA sind die erste Supermacht der Welt, sie haben den größten Einfluss bei internationalen Verhandlungen. Unserer Einschätzung nach setzen sie darauf, dass die Staaten, die das iranische Regime unterstützen, diese Position in ihrem eigenen langfristigen Interessen revidieren werden. Die USA haben der Botschaft des Säkularismus in Iran eine positive Antwort gegeben. Hoffen wir, dass Europa ähnlich verfahren wird.

Nicht alle iranischen Oppositionellen sind demokratische Säkularisten. Welche politischen Ziele hat das SMCCDI?

Jenseits unserer unterschiedlichen politischen Meinungen haben wir uns die Hände gereicht, um für die Freiheit des Iran zu kämpfen, um unserer Bevölkerung die Chance zu geben, ihre Regierung zu wählen. Ich bin persönlich Anhänger einer konstitutionellen Monarchie nach dem Vorbild Spaniens oder Schwedens. Manche meiner Kollegen befürworten eine pluralistische Republik. Aber der Respekt für Demokratie und Freiheit bewahrt uns davor, unsere eigenen politischen Vorstellungen mit der Arbeit unserer Organisation zu vermischen. Ähnlich wie ein Richter oder ein Lehrer nie seine privaten Weltanschauungen dem nationalen Interesse überordnen darf. Wenn wir an die Demokratie glauben, dürfen wir nicht unsere eigene Meinung verabsolutieren.

Wir stehen mit dieser Haltung nicht allein. Sie wird im Iran immer populärer, während manche Teile der Diaspora immer noch in den sechziger Jahren leben. Leider sind viele in ihren Ideologien absolutistisch und stets bereit, die Freiheit im Namen der Freiheit zu töten. Sie müssen aufwachen und verstehen, dass wir im dritten Jahrtausend leben. Sie sollten an die Macht der Demokratie und der Intelligenz der Bevölkerung glauben.

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft des Iran?

Der Iran hat historisch viel zur Weltzivilisation beigetragen. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, in einem reichen Land wie Iran eine säkulare, demokratische und friedliche Regierung zu etablieren. In einem bestimmten Sinne müssen wir den Iran erneuern. Unser Land muss in die Weltgemeinschaft integriert und auf den Weg der Modernität und des Fortschritts gebracht werden. Das sind Dinge, die eine rückwärts gewandte und diktatorische Theokratie nie erreichen kann. Denn Modernität und Fortschritt widersprechen den Prinzipien ihres Fundamentalismus.

Siehe auch "Ein Feind in allen Lagen" von Bernhard Schmid in dieser Ausgabe.