Die Unsichtbaren

Offiziell existieren sie gar nicht. Der Migrationsforscher Philip Anderson macht Vorschläge, wie die Situation von Menschen, die illegal in München leben, verbessert werden kann. von sandra pauli

Patricia M. klagt über heftige Unterleibsschmerzen. Zum Arzt zu gehen, traut sie sich nicht, denn sie lebt illegal in München. Vor zwei Jahren ist sie aus Ecuador eingereist, polizeilich angemeldet hat sie sich jedoch nie. Sie arbeitet schwarz und verdient wenig, aber immerhin mehr als in ihrer Heimat. So kann sie ihrer Familie ab und zu ein wenig Geld zukommen lassen.

Bisher ging alles gut, erst einmal wurde sie von der Polizei kontrolliert, doch sie konnte fliehen. Öffentliche Verkehrsmittel und überwachte Plätze meidet sie seitdem noch mehr. Ein größeres Problem als die Angst vor Polizeikontrollen sind im Moment allerdings ihre Schmerzen. Sie kennt niemanden, der ihr eine Krankenversicherungskarte leihen könnte, und einen Arzt, dem sie ihren Status preisgeben würde, auch nicht. Nur zufällig hat sie vom »Café 104« gehört, einer Beratungsstelle für so genannte Illegale, die Ärzte vermittelt, die wenig oder gar kein Geld verlangen und vor allem nicht nach den Papieren fragen.

Hilfsangebote wie diese sind selten. Die soziale Situation illegalisierter Menschen ist so prekär wie unbekannt. Obwohl allein in München zwischen 30 000 und 50 000 Menschen mit unsicherem Status leben, werden sie und ihre Probleme nicht wahrgenommen.

Das liege in der Natur der Sache, musste der Migrationsforscher Philip Anderson feststellen, der zwei Jahre lang an seiner Studie über Illegalisierte in München arbeitete. Denn für Menschen, die zwar offiziell nicht existieren, denen aber Haft oder Abschiebung drohen, sobald sie den Behörden ihre Identität preisgeben, ist Unsichtbarkeit die einzige Möglichkeit, in Deutschland zu bleiben. Die Stadt München hatte bei Anderson die Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse er im Juni präsentierte. Über viele Umwege fand er Menschen, die bereit waren, mit ihm über ihre Lebenssituation zu sprechen.

Dabei erfuhr Anderson, was Menschen bewegt, in Deutschland in die Illegalität abzutauchen. Viele fliehen aus Angst vor Verfolgung und Folter, auch ohne große Hoffnung auf Asyl. Andere, die nur einen prekären Status wie etwa eine Duldung haben, holen ihre Familienangehörigen illegal nach, weil sie die Lebenssituation für sich und ihre Kinder trotz allem hier für besser halten. Wieder andere versuchen erst gar nicht, sich in Deutschland langfristig einzurichten. Sie kommen nur für eine begrenzte Zeit, wollen hier arbeiten und genug Geld verdienen, um in ihrem Herkunftsland ein besseres Leben führen zu können.

Die Schwierigkeiten, mit denen sie in Deutschland in erster Linie zu kämpfen haben, sind aber immer dieselben: einen Job und eine Wohnung zu finden sowie die medizinische Versorgung sicherzustellen.

Der Fall Patricia M. ist keine Seltenheit, stellt Anderson fest. Menschen, die offiziell nicht existieren, können ihr Grundrecht auf medizinische Versorgung nur schwer wahrnehmen. Eine Möglichkeit nennt Anderson »ethnisch begründete Netzwerke«, in denen durch Mund-zu-Mund-Propaganda die Information weitergegeben wird, dass ein Arzt, der die gleiche Sprache spricht, zu bestimmten Zeiten in seiner Praxis aufgesucht werden kann. Die Behandlung erfolgt dann entweder gegen Barzahlung, oder es wird nicht so genau hingesehen, ob der Patient auch der Besitzer der Versichertenkarte ist.

Eine weitere Möglichkeit ist, sich an andere Illegalisierte mit medizinischer Ausbildung zu wenden. »In München habe ich eine solche Frau kennen gelernt. Es ist in der Community bekannt, dass sie die Erstversorgung übernimmt und auch einen deutschen Hausarzt kennt, der in der Not weiterhilft«, berichtet Anderson von seiner empirischen Arbeit. Wie wichtig die Möglichkeit einer anonymen medizinischen Versorgung ist, macht ein Fall deutlich, von dem ihm diese Frau erzählte. Eine Person, die an Tuberkulose erkrankt war, suchte sie auf, nachdem die Symptome nicht mehr zu ignorieren waren. Der Hausarzt konnte ihr helfen und Ansteckungen verhindern.

Auch auf dem Arbeitsmarkt sieht Anderson Handlungsbedarf für Städte wie München. »Eine Kommune kann es doch nicht ernsthaft begrüßen, dass sich Unternehmer an der prekären Situation der Arbeitskräfte bereichern und sie für ihre Arbeit schlecht oder gar nicht entlohnen«, sagt er. Bislang hätten die Illegalisierten kaum rechtliche Möglichkeiten, sich gegen Lohnbetrug zu wehren, ohne dabei aus dem Schatten der Anonymität herauszutreten.

Fehlende Schulbildung für die Kinder, Mietwucher und Unterkünfte wie zu Zeiten der frühen Industrialisierung – eine Schlafplatzvermietung für acht Stunden mit zehn Personen auf 20 Quadratmetern ist kein Einzelfall – seien nach Anderson ebenso dringend zu lösende Probleme.

Der Münchner Stadtrat hat nun die zuständigen Referate beauftragt, Andersons Vorschläge zu überprüfen. Bis zum Herbst soll darüber entschieden werden, ob und wie sie im Einzelnen realisiert werden können. Anderson hat ganz konkrete Maßnahmen vor Augen. In erster Linie müsse der Paragraf 92a des Ausländergesetzes, der eine Unterstützung der »Illegalen« verbietet, gestrichen und ehrenamtliche Initiativen müssten gefördert werden. Was die medizinische Versorgung angeht, schlug er die Einrichtung eines Fonds für Menschen ohne Krankenversicherung vor, egal ob Deutsche oder statuslose Migranten. »Daran dürften nicht nur die Stadt, sondern auch die Krankenkassen ein Interesse haben. Immerhin könnte man so den Missbrauch der Karten eindämmen«, meint Anderson.

Doch die Stadt solle sich auch Gedanken machen, wie sie Menschen die Rückkehr in ihre Herkunftsländer ermöglichen könne. Einige der Illegalisierten, mit denen Anderson Gespräche geführt hat, würden Deutschland gerne verlassen. Aber auch dafür müssten sie offiziell in Erscheinung treten und hätten mit Strafanzeigen und Abschiebehaft bis zu 18 Monaten zu rechnen.

Dass die Verwirklichung seiner Vorschläge auf kommunaler Ebene das eigentliche Problem nicht lösen wird, ist dem Migrationsforscher dabei durchaus klar: »Das eigentliche Problem liegt in der europäischen Abschottungspolitik und nicht in der Kommunalpolitik. Denn diese Abschottung ist es, die ›Illegalität‹ erzeugt.«