Weltmusiker mit leichtem Gepäck

Seine Stücke waren experimentell und zugänglich und vereinten die besten Musiker aus allen Himmelsrichtungen. Zum Tod von Herbie Mann. von tobias rapp

Es gibt Augenblicke im Leben, da zweifelt man an dem, was man sieht und hört. Läuft da wirklich ein dicker nackter Mann über die Straße? Oder bilde ich mir das nur ein? Ansonsten ist doch alles ganz normal, der Verkehr rollt und jetzt ist der Mann auch schon wieder weg. Die Überraschung stürzt ins Leben, für einen Moment stimmen die Koordinaten des Gewohnten nicht mehr, ein Moment, der schnell vergangen ist. Man kann diese Augenblicke nicht erzwingen, im Leben nicht und in der Kunst nicht. Was man tun kann, ist die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass etwas passiert.

Etwas Ähnliches dürfte sich auch der Jazzflötist Herbie Mann gedacht haben, als er 1969 nach Memphis reiste, um eine wahrhaft durchgedrehte Platte einzuspielen: »Memphis Underground.« Denn wer wäre schon auf die Idee gekommen, den Souljazz-Vibraphonisten Roy Ayers, den Softjazz-Gitarristen Larry Correll und den Noisejazz-Gitarristen Sonny Sharrock zusammen mit ins Studio zu nehmen? Und im dritten Stück, einer Coverversion des Soulgassenhauers »Hold On, I’m Coming«, passiert es dann: Nachdem Mann, Ayers und Correll geschmackssicher ihre Soli heruntergespielt haben, türmt Sharrock ein Krachgitarrensolo auf, das nicht zuletzt deshalb so außerweltlich wirkt, weil die Memphis Rhythm Section stoisch weiterswingt, als würde nichts passieren. Man kann es hundert Mal hören, wie Herbie Mann gegen Ende des Stücks noch einmal die Flöte ansetzt und das Thema spielt, während Sharrock und seine Gitarre brummen, gurgeln und jaulen – jedes Mal denkt man sich: Hör’ ich das wirklich gerade? Kann das wahr sein?

Neugier wäre das eine Wort, mit dem man das Schaffen von Herbie Mann zusammenfassen könnte. Geboren 1930 in Brooklyn, begann er im Alter von neun Jahren Klarinette zu spielen; die Querflöte entdeckte er erst recht spät. In den Fünfzigern spielte er mit so unterschiedlichen Musikern wie Bill Evans, Sarah Vaughan und Chet Baker, um dann Anfang der Sechziger der zu werden, an den man sich erinnern wird: ein Weltmusiker mit leichtem Gepäck. Seine großartige Liveplatte »At The Village Gate« von 1961 deutet an, wohin die Reise gehen wird. Er verzichtet auf die Begleitung eines Pianisten und spielt stattdessen mit zwei Bassisten, einem Vibraphonisten, einem Schlagzeuger und zwei Perkussionisten. Die Musik hat einen Hang zu lateinamerikanischen Rhythmen, wird getragen von einer recht offenen Struktur und ist gleichzeitig experimentell und zugänglich. Von nun an sollte Mann durch die Gegend reisen, sich die besten Musiker eines Genres oder einer Gegend herauspicken und mit ihnen spielen. Kein Stil als Stil, schien sein Motto zu sein.

Mann war einer der ersten nordamerikanischen Jazzer, die mit brasilianischen Musikern zusammenspielten, noch bevor der Bossanova-Craze die USA erreichte. Mitte der Sechziger reiste er in den Nahen Osten, um mit arabischen Musikern zu spielen. Er jammte mit japanischen Musikern, er tourte durch Afrika und nahm Platten mit dortigen Musikern auf. Das war Weltmusik, bevor es den Begriff gab, und heute, wo es ihn gibt, ist es keine Weltmusik mehr, weil Mann jede Formation an seine Vorstellung von Sound anpasste. Authentizität interessierte ihn nicht. Er spielte mit der Belegschaft des legendären Muscle Shoal Studios in Memphis (»Nitty Gritty«, 1970), mit der Reggaeband von Tommy McCook (»Reggae«, 1974) und mit dem Discoproduzenten Patrick Adams (»Supermann«, 1978).

So unterschiedlich all diese Werke sind, man erkennt sie doch immer als Herbie-Mann-Platten. Alle haben eine gewisse Luftigkeit, etwas Offenes und Verspieltes. Immer gibt es eine offene Flanke zum Populären. Mann ist nicht nur der Bandleader, sondern auch derjenige, der für die Kombination der Musiker verantwortlich ist. Das konnte so umwerfende Ergebnisse hervorbringen wie die Aufnahmen von »Memphis Underground«, es konnte aber auch völlig daneben gehen.

Ungefähr hundert Platten hat Mann im Laufe seiner Karriere aufgenommen, längst nicht alle möchte man heute noch hören. Von »London Underground« etwa, 1974 eingespielt mit dem damaligen Rolling-Stones-Gitarristen Mick Taylor, sei an dieser Stelle auf das Entschiedenste abgeraten.

Ein wenig hören sich Manns Platten heute an, als seien sie aus der Zeit gefallen, hat doch die allübergreifende Kanonisierung noch der obskursten musikalischen Phänomene ausgerechnet für seine Musik keinen Platz gefunden. Ein sich als Softjazz-Playboy inszenierender Flötist, der um die Welt reist, mit den verschiedensten Musikern Platten einspielt, auf deren Covern er bevorzugt seine Brustbehaarung in die Sonne hält – jemand wie Mann musste wohl der Eingemeindung entgehen.

Für Jazzfreunde war seine Musik meist zu seicht und zu erfolgreich, für Rockhörer sowieso, gekauft wurden seine Platten trotzdem. Heute würde man die meisten Aufnahmen wohl Easy Listening nennen, das Easy-Listening-Revival der frühen Neunziger ging jedoch an Mann vorbei. Es war den Über-Eklektizisten der britischen Band Stereolab vorbehalten, ihn in den späten Neunzigern als Gast zu verpflichten.

Doch schon in den späten Siebzigern hatte Manns Stern zu sinken begonnen. Zwar tourte er noch regelmäßig, kehrte auch zu seiner geliebten brasilianischen Musik zurück, Aufnahmen mit HipHop- oder Drum’n’Bass-Produzenten blieben der Welt jedoch erspart. Vor drei Jahren spielte Herbie Mann noch ein Album mit traditioneller jüdischer Musik ein.

Am Montag der vergangenen Woche ist Herbie Mann in Santa Fe, New Mexico an Krebs gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.